Lea

Blut lief in einem dünnen Rinnsal ihren Arm hinunter. Sie tastete ihre Schulter ab, suchte die Stelle, an der das Blut herausfloss. Zwar blutete die Wunde über ihrem Schlüsselbein, aber offensichtlich war es nur eine kleine Fleischwunde. Warum hatte sie auch mit aller Macht versucht, über den Maschendrahtzaun zu klettern? Nur weil der Weg kürzer war und an den Militärstationen vorbeiführte? An den Sicherheitskontrollen und Überwachungstürmen? Sie fluchte – und hätte sich am liebsten im selben Moment dafür geohrfeigt. Eigentlich sollte sie es besser wissen: Ein falscher Laut, eine falsche Bewegung und sie würden sie finden. Sie jagen. Sie verfolgen. Sie fressen. Lea dachte oft an die Zeit, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Als ihr Vater noch lebte und ihr den Weg wies. Ihr zeigte, wo sie sich verstecken konnte. Doch das war schon lange vorbei. Er war tot. War ihnen zum Opfer gefallen. Hatte es getan, um Lea zu schützen. Gestorben, weil sie unbedingt in der Staatsgalerie übernachten wollte. Sie ein letztes Mal sehen wollte, bevor die Zone geschlossen wurde.

Ein schlurfendes Geräusch, ließ sie herumfahren. Reglos verharrte sie, lauschte. Lea hielt den Atem an, zog aus der zerschlissenen Umhängetasche ihren Schutzumhang hervor und warf ihn sich über. Beim Verwesungsgeruch, der sich um sie legte, überschlug sich ihr Magen und sie kämpfte den Würgereiz nieder. Wenn sie sich jetzt übergab, wäre sie verloren. Ob mit »Schutzumhang« oder ohne. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Mit der Technik, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, reduzierte sie ihren Herzschlag auf ein Minimum. Senkte ihn, so dass ihr Herz nur noch ganz langsam schlug. Gleichzeitig atmete sie flacher, bewegte sich wie in Zeitlupe und zog den Umhang enger, bevor sie im Schutz der Dunkelheit vorwärtsging. Sie achtete darauf, bei jedem Schritt ein Bein hinterherzuziehen, zu schlurfen und dabei möglichst wenig menschlich zu wirken. Nicht auffallen, nicht sprechen, keine Lebenszeichen – zumindest keine allzu deutlichen – zu zeigen. Das waren die Dinge, die ihr Vater ihr eingeschärft hatte. Sie zog den Umhang noch etwas fester und setzte sie ihren Weg fort. Der Verwesungsgeruch wurde stärker. Kam näher. So nah! Sie waren so nah! Doch Lea kannte die Gassen und dem Verfall ausgelieferten Gebäude um die Staatsgalerie besser als jeder andere. Sie würde unbemerkt an ihnen vorbeikommen, und wenn die Galerie erst einmal in Sichtweite lag, wenn sie die erste Falle aktivieren konnte, dann würde sie sich zu erkennen geben. Und würde sich neue Beute verschaffen. Lea lächelte. Die Staatsgalerie war ihr Zuhause. Ihre Zuflucht. Und zugleich die Ruhestätte ihres Vaters. Sie würden Lea nicht kriegen.

 

Sie blinzelte gegen die Sonne, als sie aus den dunklen Schatten trat. Schlurfend, wie eine von ihnen. Inmitten von ihnen. Lea bemühte sich, ihren Herzschlag weiterhin niedrig zu halten. Flach zu atmen. Wie eine von ihnen. Sie hatte sie lange genug beobachtet, um zu wissen, wie sie sich bewegen musste. Wie sie den Kopf halten musste. Was sie tun musste, um sie zu fangen. Unwillkürlich entwich ihr ein Knurren. Der Gedanke an ihren Vater, an ihre Schwester – was sie getan hatten, brachte Lea dazu, jede Vorsicht zu vergessen. Doch offenbar war ihr Knurren nicht aufgefallen. Natürlich nicht. Denn diese Wesen nur auf eindeutig menschliche Laute.

Vor ihr gelangte die Staatsgalerie in Sichtweite. Nicht mehr lange und sie würde ihren Schutzumhang fallen lassen können. Sich als Mensch zu erkennen geben. Andreas würde schon dafür sorgen, dass sie sie nicht bekamen. Wahrscheinlich saß er schon auf seinem Posten. Lea hoffte es zumindest.

Andreas. Wenn sie an ihn dachte, wurde ihr warm ums Herz. Ohne ihn hätte sie längst aufgegeben. Ihrem Leben ein Ende gesetzt. Wäre dem Weg ihrer Familie gefolgt. Doch so – so kämpfte sie um das Leben, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Lea lächelte. Ja, es war jetzt nicht besonders gut, aber es war ein Leben. Mit allem, was sie brauchte. Nun, fast allem.

Eine Bewegung neben ihr, ließ sie aufschrecken. Der Infizierte zu ihrer Rechten bewegte sich überraschend schnell auf sie zu. Schnuppernd, beinahe schnüffeln hatte er sich ihr zugewandt. Lief hinter ihr her. Lea musste all ihre Willenskraft aufbringen, um ihr Herz weiterhin ruhig schlagen zu lassen. Den Blick möglichst ausdruckslos starrte sie ihm ins Gesicht. Nichts geschah. Er schnüffelte erneut, sog die Luft tief ein. Seine Augen weiteten sich – Gier blitzte darin auf. Er fletschte die Zähne und ein raubtierhaftes Knurren drang aus seiner Kehle. Lea wusste, sie konnte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, sonst würden sie sie bekommen. Der Infizierte gab ein Geräusch von sich, das ihr durch Mark und Bein ging. Lea wusste: Er hatte sie durchschaut.

Mit einem Schrei der Verzweiflung warf sie den Umhang von sich und rannte los. Sie rannte direkt auf die Galerie zu. Schlug Haken. Wich den Infizierten aus, die sich so ungewöhnlich schnell bewegten. Das Virus hatte sich weiterentwickelt. Hatte die Befallenen schneller, aggressiver, aber keineswegs klüger gemacht.

Doch Lea war darauf vorbereitet. Andreas und sie hatten unermüdlich trainiert – was ihr in diesem Moment einen Vorteil verschaffte. Wendig und schnell rannte sie zwischen den Infizierten hindurch, wich den gierigen Händen aus und pfiff dabei in gellender Lautstärke. Ihr Zeichen für Andreas. Mit etwas Glück würde sich vielleicht auch das Militär einschalten – immerhin war dies Sperrgebiet und stand unter ständiger Beobachtung. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Himmel. Sie suchte die Helikopter. Die Schützen. Doch dieses Mal schienen sich die Freunde der Tarnfarben zurückzuhalten und glänzten durch Abwesenheit. Lea fluchte. Falscher Zeitpunkt, Jungs! Sie hätte absolut nichts dagegen gehabt, wenn sich das Militär selbst zu dieser Party eingeladen und die Infizierten unter Beschuss genommen hätte.

Etwas packte sie am Handgelenk. Lea zerrte, kam aber nicht frei. Das Gesicht des Infizierten hatte sich zu einer hungrigen Fratze verzerrt – angsteinflößend und gierig. Geifer lief ihm aus dem weit aufgerissenen Mund, ein Aufblitzen fauliger Zähne. Sein Atem schlug ihr entgegen und verbreitete dabei den Gestank von Tod, Blut und Fleisch. Lea spürte, wie sich ihr Magen wieder verkrampfte, und kämpfte mit aller Macht die Galle nieder. Er roch ihr Blut, das wusste sie. Sie hätte sich vielleicht doch etwas um die Wunde binden sollen. Einen Verband, den sie dann mit der Haut der Infizierten umwickelt hätte. So hatte sie sich auf ihren wallenden Schutzumhang verlassen, was anscheinend ein Fehler gewesen war. Der Infizierte zog ihren Arm zu sich heran, wollte hineinbeißen. Lea stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Sie wusste, ein Biss und sie würde wie sie werden.

»Lass mich los!«, schrie sie. Lea wusste sich nicht anders zu helfen. Sie trat nach dem Infizierten, schlug ihm mit der freien Hand ins Gesicht. Andere Infizierte wurden auf sie aufmerksam, kamen näher. Schlurfend. Schnüffelnd. Geifernd. Und nach ihrem Fleisch gierend. Lea griff in ihre Tasche. Suchte ihre Waffe, eine kleine Beretta, die sie einem sterbenden Polizisten abgenommen hatte. Im allerletzten Moment umschlossen ihre Finger die Waffe, rissen sie heraus und Lea schoss dem Infizierten mitten ins Gesicht. Der Griff um ihr Handgelenk löste sich. Und Lea rannte. Sie musste doch nur den Vorhof erreichen. Nur diese eine Markierung passieren. Dann würde Andreas die Infizierten, die ihr folgten, ausschalten und sie wäre in Sicherheit. Lea beschleunigte ihre Schritte, die Pistole in der Hand. Das kühle Metall wirkte geradezu beruhigend, gab ihr ein Gefühl von Schutz.

Ein Schuss ertönte.

Noch einer.

Und noch einer.

Lea hätte am liebsten geweint. Erschöpft rannte sie weiter, stolperte, spürte jeden Muskel ihres Körpers. Ihre Beine zitterten. Über ihr erklangen die rotierenden Hubschrauberblätter und Erleichterung durchströmte Lea, der ihr neuen Auftrieb gab. Andreas hatte sicherlich längst seinen Posten bezogen. Obendrein hielt ihr das Militär endlich den Rücken frei. Lea stolperte die Stufen zur Staatsgalerie hinauf. Mit letzter Kraft drückte sie den Schalter, der die Fallen aktivierte, die Andreas und sie sich aus den Ausstellungsstücken und dem Inventar der Kaufhäuser im Umfeld konstruiert hatten und lehnte sich mit einem Seufzer gegen eine Säule, um wieder zu Atem zu kommen. Das Surren der Laser beruhigte ihre Nerven. Lea lehnte ihre Stirn an die Säule, kühlte die erhitzte Haut am Stein.

»Lea!« Sie schreckte auf. »Lea, beweg deinen Arsch hier rein!«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Andreas‘ nette Aufforderung konnte sie unmöglich ignorieren. Sie warf einen letzten Blick auf die Infizierten, die ihr gefolgt waren, bevor sie durch den Eingang schlüpfte und Andreas gegenüberstand.

»Na, du hast dir ja ordentlich Zeit gelassen! Nichts geht über einen kleinen Abenteuerspaziergang, hab ich recht?«

»Du bist manchmal ein echter Penner, hat dir das schon Mal einer gesagt?« Lea strich sich eine Strähne hinters Ohr und atmete tief durch. »Hölle, war das knapp!«

»Und es ist noch nicht vorbei!« Andreas zog sie von der Tür weg. »Sie haben den ersten Ring durchbrochen. Unsere Freunde vom Militär sind zwar fleißig dabei, alles niederzuschießen, was sich bewegt, aber es haben zwei oder drei ihren Weg durch unsere erste Laserschranke gemacht. Was willst du jetzt tun? Abwarten und zusehen, ob sie die Tesla-Schranke überleben oder dich wie Rambo dem Schussfeuer anschließen?«

»Nun, einer sollte in eine der Fallen tappen. Schließlich habe ich meinen Schutzumhang verloren. Und du weißt, wie begehrt diese Umhänge auf dem Schwarzmarkt sind.«

»Also warten wir?« Andreas schien von dieser Idee nicht gerade begeistert zu sein. Lea seufzte, wollte gerade etwas sagen, als sie eine Bewegung auf einem der Überwachungsmonitore bemerkte. Eine Bewegung, die sie nicht erwartet hatte. Einer der Infizierten stand vor der Eingangstür der Staatsgalerie und starrte direkt in die Kamera.

»Lea? Lea, siehst du das?«

»Was zum Teufel …? Andi, ich glaube, du kannst jetzt zeigen, wieviel Rambo in dir steckt.« Lea griff nach den Waffen im Schrank neben der Tür, wählte eine Schrotflinte und verzog das Gesicht, während sie sie durchlud. »Auf geht’s! Schießen wir ein paar Infizierten die Gesichter weg!«

 

Lea stand auf dem Vordach des Eingangspavillons, zwischen zwei der gläsernen Dreiecke, und schoss. Der Rückstoß der Schrotflinte drückte sie immer weiter an die Wand des Pavillons. Schmerzhaft drückte der Stein in ihren Rücken, doch wenn sie Andreas nicht die volle Wahrheit sagen wollte, musste sie den Schein bewahren und auf die Infizierten schießen. Mit der Schrotflinte war sie nicht so effizient wie Andreas mit seinem Gewehr – er erinnerte sie an ihren kleinen Bruder, der in den Ego-Shooter immer die Rolle des Snipers gewählte hatte. Andreas lag auf dem Dach des Pavillons, völlig auf die Infizierten konzentriert, bereit, jeden Einzelnen zu töten. Lea lud nach, biss sich auf die Unterlippe und schoss erneut auf einen Infizierten. Es war eigentlich vollkommen unnötig und nichts als Munitionsverschwendung, aber es war etwas, was sie tun musste, wenn sie die Fassade aufrechterhalten wollte. Dabei würde keiner durch die Galerie in ihr Versteck gelangen, selbst wenn einer der Infizierten durch den Haupteingang eindrang. Sie hatte so viele Fallen konstruiert, so viele Hindernisse aufgebaut – das, was Andreas und sie taten, war einfach nur unnötig.

»Lea!«

Sie hob den Kopf. Andreas deutete auf eine kleine Gruppe Soldaten, die sich der Galerie näherten und die Infizierten vor sich hertrieb.

»Was machen die da? Lea! Was machen die da?«

»Ich weiß es nicht!« Und wie sie es wusste. »Lass uns nach drinnen gehen! Ins Versteck! Wir können alles über die Monitore beobachten, aber so können sie nicht zufällig auf uns schießen. Sie wollen uns hier nicht haben. Das weißt du. Die Sperrzone ist nun mal für die Gesunden verboten. Und das werden sie durchsetzen. «

»Aber sie, die Infizierten …«

»Andreas! Du weißt, sie kommen hier nicht lebend durch! Wie oft müssen wir uns denn noch darüber streiten?« Lea kletterte zu ihm aufs Dach. »Komm jetzt! Bevor sie wirklich auf uns zielen!« Lea zog Andreas zur Luke, die ins Innere der Galerie führte, und klettere hindurch.

»Lea! Was ist mit den Infizierten? Was, wenn sie durchkommen? Was, wenn die Jungs vom Militär sie nicht in Schach halten können? Die treiben sie doch direkt auf uns zu!«

»Jetzt komm endlich rein! Himmel! Und geh mir nicht auf die Nerven!« Lea schüttelte den Kopf. »Komm jetzt!« Sie zog Andreas mit sich, beide schulterten ihre Waffen. Sie kamen jedoch nicht weit, denn ein ohrenbetäubendes Poltern ertönte an der Eingangstür des Pavillons. Erschrocken fuhren sie beide herum, Lea lud die Waffe durch, Andreas zielte mit zitternder Hand auf den Eingang.

»Spar dir dein >Ich hab’s dir ja gesagt<!«, knurrte Lea und lief langsam rückwärts. Das Poltern vermischte sich mit einem Kratzen. Schüsse erklangen.

»Ja, ich sag ja schon nichts! Aber …«

»Nichts aber! Los! Lauf!«, schrie Lea, drehte sich um und rannte. »Andreas! Oder willst du gefressen werden, falls sie durchbrechen?« Oder gebraten, dachte sie, wenn ich alles aktiviert habe. Der Kontrollraum. Ihr Hafen. Ihre Burg in diesem von Fallen wimmelnden Labyrinth. Egal wie viele Sorgen sich Andreas machte, wie oft er glaubte, sie würden durchbrechen – keiner von ihnen war jemals bis zum Direktionsgebäude gelangt. Keiner hatte je den Kontrollraum erreicht.

Im Vorbeigehen drückte sie die Schalter. Aktivierte die Fallen. Die Tesla-Laser-Fallen. Die Stacheldraht-Fallen. Alles, was sie sich zusammengebastelt hatte. Auch die Fallgruben. Die Fangnetze mit den Schockimpulsen, von denen Andreas nichts wusste. Und niemals etwas erfahren würde.

»Lea! Bist du sicher, dass sie nicht durchbrechen können?«

»Andreas!«, keuchte sie. »Halt. Die. Fresse!« Sie schlitterte über den glatten Boden, bog schwungvoll um eine Ecke und krachte gegen die Wand. Die Schrotflinte drückte ihr unangenehm ins Fleisch. Schmerz durchfuhr sie, als sie sich den Kolben ins Knie rammte.

»Alles Okay bei dir?« Andreas war stehengeblieben. Stand einfach nur da und sah sie an.

»Steh doch nicht so dumm rum!« Lea spürte, wie ihr die Wuttränen über die Augenlider quollen wollten. Sie griff Andreas‘ Hand, rannte weiter, riss ihn mit. »Komm endlich! Himmelherrgott! Für jemanden mit deinen Panikattacken bist du echt unvorsichtig!« Die Flinte schlug ihr beim Laufen gegen die Hüfte, Andreas‘ Hand rutschte vor Schweiß beinahe aus ihrer. Lea rümpfte die Nase. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht tatsächlich ohne ihn besser dran wäre. Mit schmerzhaft verkrampften Oberschenkelmuskeln und zitternden Knien stolperte sie endlich die Treppen zum Kontrollraum hinauf. Die metallene Sicherheitstür glänzte im hereinfallenden Sonnenlicht – ein Augenblick, der sie ungemein beruhigte. Sie beschleunigte ihre Schritte, mobilisierte ihre letzten Kräfte.

»Lea, bist du sicher, dass …«

»Andreas! Lass es jetzt gut sein!« Lea keuchte, japste nach Atem. Mit zitternden Händen tippte sie die Kombination für das Sicherheitsschloss und ignorierte Andreas. Mit einem tiefen Knarzen schwang die Tür im Schneckentempo auf. Notiz an mich: Öle diese verdammte Tür! Sie huschten hinein und Andreas drückte den Knopf, so dass die Tür wieder im gleichen unpassenden Tempo zuschwang, und lächelte Lea an. »Wir haben es geschafft! Wir sind in Sicherheit!«

»Hurra!«, murmelte Lea monoton. Sie warf sich auf einen der Schreibtischstühle vor den Monitoren und atmete tief durch. Was hätte sie jetzt nicht alles für eine Valium gegeben! Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich zu entspannen. »Und nun? Was machen wir jetzt?«

Sie rieb sich die Schläfen. »Valium. Jetzt!«, hätte sie am liebsten geantwortet. Doch stattdessen sagte sie: »Wir machen dasselbe wie jeden Abend. Wir warten ab. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Dann drehen die ja sowieso am Rad.« Lea gähnte. »Also, lass uns unsere Kräfte sammeln, damit wir morgen einigermaßen ausgeruht auf dem Schwarzmarkt ankommen.«

»Du hast wohl gute Beute gemacht?«

Lea schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Tasche. Sie lächelte, als sie den angewiderten Gesichtsausdruck Andreas‘ wahrnahm, der das getrocknete Blut auf der Taschenoberseite bemerkt haben musste. Neben dem strengen Geruch der Verwesung.

»Boah! Muss das so stinken?«, fragte er.

»Soll ich dir noch einmal erklären, wie wichtig unsere Tarnung ist? Hast du es den immer noch nicht begriffen?« So gern sie ihn auch hatte, an manchen Tagen benahm er sich wie der letzte Trottel. Wären die Infizierten nicht auf Gehirne aus gewesen, hätte er sich an Tagen wie diesem nicht vor ihnen verstecken müssen! Mit einem tiefen Seufzer stand sie widerwillig auf, kippte den Inhalt der Tasche aus und warf Andreas einen vielsagenden Blick zu. »War das jetzt so schwierig?«

»Ja!« Andreas beugte sich vor, sog die Luft ein. »Bäh! Lea! Du stinkst wie die!«

Lea sparte sich eine Erwiderung, ging zu den Monitoren hinüber und starrte auf die Infizierten, die vom Militär zur Galerie getrieben wurden.

»Was machen die da?« Andreas war hinter sie getreten. »Die treiben die Kranken ja voll in unsere Richtung! Wollen die uns damit einschüchtern?«

Lea nahm sich vor, Max zu danken, dass er ihr wieder einmal neue Beute lieferte.

»Nein. Ich nehm‘ an, sie treiben sie einfach in die Enge. Auf freiem Feld sind die Infizierten schwieriger zu treffen, als wenn sie auf einem Haufen stehen.« Sie schnüffelte. Okay, es war Zeit, sich sauber zu machen. »Mach dir nicht ins Hemd! Es wird schon nichts passieren.« Sie zwinkerte ihm zu, bevor sie in dem Raum verschwand, den sie zum Bad umfunktioniert hatten. Regenwasser, Seife – mehr an Luxus gab es nicht. Und selbst damit musste sparsam umgegangen werden.

»Lea, ich bin nur vorsichtig. Ich mache mir halt Sorgen, wenn du da draußen alleine unterwegs bist. Du musst deswegen nicht gleich gemein zu mir sein!«

»Ich …« Lea prustete, als sie Wasser in den Mund bekam. »Ich bin nicht gemein zu dir! Nicht absichtlich! Ich bin einfach nur furchtbar gestresst. Tut mir leid.« Zum Glück konnte Andreas ihr Gesicht nicht sehen, denn Lea verzog bei der Lüge, die ihr so einfach über die Lippen gekommen war, das Gesicht. Sie war wirklich nicht absichtlich gemein zu ihm, aber es war ermüdend, fast alles alleine tun zu müssen. Für alles alleine verantwortlich zu sein.

Und trotzdem – sie wollte ihn nicht verletzen. Er war das Einzige, was ihr an Familie geblieben war. Der Einzige. Sie drängte bei dem Gedanken mit aller Macht ihre Tränen zurück. Als sie das Kalte Regenwasser abstellte, fühlte sie sich erleichtert und fing fast im selben Moment damit an, sich die Haut warm zu rubbeln. Der vermutlich größte Nachteil, wenn die Zivilisation zusammenbrach, war die mangelnde elektrische Versorgung.

Keine Heizung. Kein warmes Wasser. Lea wollte bestimmt nicht an den Winter denken.

»Er tut mir wirklich leid«, erklärte sie, während sie ihre frischen Sachen anzog. Und jetzt, dachte sie, muss er nur noch antworten: Dann lass mich dir helfen! Ich kann doch mitkommen! Zu zweit können wir mehr tragen und uns besser verteidigen! Du musst nicht alles alleine machen! Ich bin für dich da! Du musst es nur zulassen!

Lea biss sich auf die Lippe. »Nun gut … wenn du unbedingt möchtest, dann soll es so sein. Dann kommst du morgen einfach mit.« Unwillkürlich musste sie lächeln, als sich Andreas‘ Gesicht aufhellte.

»Du siehst müde aus.« Eine gewisse Sorge klang in seinen Worten an. Mit einem Klopfen deutete er ihr, sich neben ihn zu setzen. Das Feldbett, dieses klapprige Etwas, sah tatsächlich mit einem Mal unglaublich verlockend aus. Ihr erster Impuls wollte ihm widersprechen, wollte etwas anderes tun. Doch dann gab sie nach und ließ sich neben ihm nieder. Mit geschlossenen Augen genoss sie seine Hände auf ihrer Haut. Die sanften Berührungen. Die wohltuende Massage.

Schließlich versank sie in einem erholsamen Schlaf.

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