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Sonja

Das grelle Neonlicht und die vielen verschiedenen Gerüche der neuartigen Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer eigenwilligen Komposition, die ihr in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein, um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah auf die Gastronomie-Messe gegangen, da neue, vegane Gerichte entdecken und die steigende Nachfrage bedienen wollte. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was sie den Gästen persönlich vorgesetzt hätte.

»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand, an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da rüber gehen. Eine ganze Theke voll von veganem Fleisch. Das muss ich sehen!«

Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah zwängte sich bereits durch die Menschenmengen hindurch und schubste sie erbarmungslos zur Seite, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.

»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze. Witziger Name.«

Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich: rote Blätter mit weiß-grüner Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotenartige Auswüchse. Die Ähnlichkeit zum Bacon war vorhanden – mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie jedoch etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich – das klang einfach zu absurd, um wahr zu sein.

»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter Beweis stellen, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie sehen. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, eine dieser Pflanzen zu bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich das angesagteste Restaurant der Stadt.«

Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss es Sonja durch den Kopf, doch sie verbot sich diesen Gedanken. Jannis war zwar nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen – somit waren sie quitt. Die Küchencrew bekam ihre verdiente Ruhe und Sarah behielt ihren persönlichen Punchingball.

Jemand stieß sie an und sie taumelte. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste, dass Sarah sich durch die Menschenmassen drängelte, um ihren Willen zu bekommen.

»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, gehetzt aussehender Mann an. Dicke Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, unterstrichen die unfassbare Wut in seinem Blick. Sonja schluckte. Etwas an diesem Blick stimmte nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder wollte sie nicht hören. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort wieder auf den Stand, er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In Sonja wuchs die Neugier, etwas drängte sie dazu, herauszufinden, was dort vor sich ging. Der Stand, der Forscher – irgendetwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was? Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, da es veganes Fleisch gab, das nicht nur so aussah, sondern vermutlich auch nach Tier schmeckte, aber keins war? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre Neugier befriedigen konnte, schrillten Sarahs Worte in ihren Ohren. Die Aufregung ließ die Stimme der Freundin mehrere Oktaven höher klingen. Der Forscher, auf den ihre Freundin einredete, wirkte überfordert, er suchte herum, wirkte gehetzt und wollte anscheinend die nächstbeste Lücke im Besucherstrom nutzen, um zu verschwinden. Er hatte offenbar keine Ahnung, wie er mit dem Redefluss Sarahs umgehen sollte.

Sonja musste kichern. »Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den anderen hier sprechen.« Sie hatte beschlossen, den Messeteilnehmer zu retten und ihre Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der Forscher auf sie zu konzentrieren. Seine dunklen Augen starrten sie eindringlich an, so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, mehrere Schritte nach hinten zu machen, um von ihm wegzukommen. Doch sie musste Zeit schinden. Sie musterte den Laborkittelträger: Das blütenreine Weiß des Kittels leuchtete im Neonlicht, die dunklen Augen verrieten nicht, was er wirklich dachte. Dazu verkniffene Mundwinkel, ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte, und etwas, das grundlegend abstoßend war. Etwas störte Sonja gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war. Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.

»Interessieren Sie sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend – zu glatt. »Ominös! Köstlich!« Er lachte, zeigte dabei so viele Zähne, dass Sonja unwillkürlich schauderte. Sein Lachen war zu aufgesetzt, um sie nicht zu gruseln. »Gestatten Sie mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«

Offensichtlich versuchte er, Sarah zu entkommen und im gleiche Zug mit Bauernfängerei beginnen.

»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte an Sonjas Arm. »Wir wären der It-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die werden uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie funktioniert«, murmelte Sonja. »Die kann auch der gefährlichste Dreck sein, den wir jemals finden werden.«

»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. »Diese Pflanze ist ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er schnipste – eine Geste, die Sonja in jeder Hinsicht hasste. Ein junges Mädchen, höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig und ein seltsamer Geruch ging davon aus. Eine seltsame Faszination ging von der Pflanze aus. Obwohl sie sich auch abgestoßen fühlte, konnte sie nicht widerstehen und streckte eine Hand danach aus, was offensichtlich für den Forscher ein Zeichen war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Bacon-Pflanze sind phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um« – er hielt inne, zählte die Blätter – »an die zwei Dutzend Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich Ihnen.« Mit einem Nicken forderte er Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu welchen Ergebnissen man gekommen wäre. Dabei erwähnte der Laborkittelträger immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.

»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger – ich glaube nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber damit möchte ich mir ungern die Finger schmutzig machen.«

»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die Pflanzenbestandteile für den menschlichen Körper nicht schädlich sind. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«

»Das ist alles eine Lüge!« Sonja fuhr mit einem unterdrückten Kreischen zusammen. Der Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, hatte wohl die Beherrschung verloren.

»Das ist alles eine Lüge!», schrie er. »Genmanipulation ist alles, aber nicht gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen Ergebnisse. Niemand kann sagen, ob die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«

Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtet hatte. Der Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen – Sonja kratzte sich am Ohr. Irgendetwas sagte ihr der Name, doch sie kam nicht sofort drauf.

»Ich gehöre zu Natureen«, rief der Typ im Kittel. »Wir beschäftigen uns mit nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollen die Bevölkerung über die Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch die Bacon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als Nahrungsquelle zu dienen!«

»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden. Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden. Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«

»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat man uns stets abgewiesen? Warum uns vom Gelände gejagt? Wenn diese Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen zukommen zulassen!«

Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche – Naturgut. Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest – nur eben für Lebensmittel – und ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit in Bezug auf genmanipulierte Lebensmittel. Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Bacon-Pflanze vor ihnen abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr miese Gefühl.

»Wir wollten eben nicht, dass unsere innovative Entdeckung zum falschen Zeitpunkt publik gemacht wird«, erklärte die Assistentin, die noch immer den Blumentopf umklammert hielt. »Wir haben nicht umsonst so viel Zeit und Geld in diese Forschung gesteckt, um dann mit Plagiaten kämpfen zu müssen. Wir wollten entscheiden, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen und nicht Natureen. Immerhin stecken viele Jahre Arbeit und eine Menge Forschungsgelder hinter dieser einzigartigen Pflanze. Das wollten wir uns einfach nicht kaputtmachen lassen.« Selbst die junge Frau schien zu merken, dass ihre Erklärung mehr als nur dürftig klang und vielmehr als halbherzige Entschuldigung durchging. Sonja tat das Mädchen leid, aber sie hatte mit Sicherheit gewusst, auf was sie sich da einließ. Und nun, nun musste sie eben dafür geradestehen.

»Ich versteh die ganze Aufregung nicht«, grummelte Sarah, den Blick noch immer fest auf die Pflanze gerichtet. »Der sagt doch, das Zeug ist harmlos. Soll halt Natureen schauen, dass sie ein Exemplar bekommen und ihre bescheuerten Tests durchführen. Ich glaub dem das. Die kann doch nicht wirklich so gefährlich sein, wie sie hier dargestellt wird. Dramaqueens. Wollt halt auch euer Stück Aufmerksamkeit.«

»Und du siehst natürlich nur den Nutzen und das Wohl unserer Gäste und nicht etwa den dicken Bonus, wenn wir das Ding in den Pub geschleift bekommen«, sagte Sonja. »Ich kenn dich doch. Menschenfreundlich wie eh und je, selbstlos bis zur Aufgabe.« Sie schüttelte den Kopf. Sarah sah nur den Profit. Den Vorteil. Wenigstens das würde sich nie ändern.

»Ach, du bist blöd.« Sarah stieß die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir müssen …« Weiter kam sie nicht. Ein plötzlicher Aufruhr unterbrach sie. Neugierig reckten die beiden Freundinnen den Hals. Vier Securitymänner liefen im Stechschritt den Gang entlang, steuerten direkt auf den Stand zu. Ihre Gesichter waren grimmig und kalt. Ein klein wenig aufgeblasen, wenn sie ehrlich war. Die Schlagstöcke gezückt und mehr Muskeln, als dass sie gut ausgesehen hätten. Sonja konnte nicht anders: Sie musste einfach kichern.

»Sie kommen mit uns«, erklangen ihre Stimmen unisono und griffen nach den Armen des Natureen-Sprechers. Zwei von ihnen hielten ihn fest, die anderen beiden wurden von den Standbetreibern über das Geschehen informiert. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, führten sie ihn ab, ignorierten dabei seine Proteste. Als er sich wehrte, schlug einer der Vier ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Sonja runzelte die Stirn. Die Reaktion der Sicherheitsleute schien ihr einfach zu überzogen, um normal zu sein. Es musste etwas Großes im Gange sein. Etwas, das mit dieser Pflanze zu tun hatte. Natureen. Muss ich …

»Sonja!«

 

  • Kapitel 2

 

Sonja schloss für einen Moment die Augen. Sarahs Stimme hatte sie aus dem Konzept gebracht.

»Sonja, ich schwöre dir, wir gehen nicht eher hier weg, bis wir dieses Ding haben!«

Ist es zu spät, um mich umzudrehen und so zu tun, als würde ich dich nicht kennen? Sonja biss die Zähne zusammen, war bemüht, die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, zu schlucken.

»Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich vielmals für diese unnötige Unterbrechung. Wir werden sogleich mit der Demonstration fortfahren, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat.« Das künstliche Lächeln des Forschers verursachte bei Sonja Zahnschmerzen. »Bitte scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen oder Zweifel zu äußern. Wir werden all Ihre Einwände aufnehmen und unsere Erkenntnisse an Sie weitergeben. Treten Sie näher! Beseitigen wir die Unklarheiten.«

Na, wie das Beseitigen aussieht, haben wir ja gerade gesehen. Sonja spielte mit der großen Holzcreole in ihrem rechten Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie einer Sache nicht traute. Es war ein großer auffälliger Ohrring, schließlich besaß sie nur einen davon. Und sie trug ihn beinahe schon trotzig als Gegensatz zu den vielen Steckern im linken Ohr.

»Ich habe eine Frage«, meldete sich Sarah und Sonja verdrehte die Augen. Was jetzt kommen würde, hatte nichts, rein gar nichts mit der Forschung zu tun. Sarahs Plan stand fest und sie würde nun so lange auf den Laborkittelträger einreden, bis er ihr die Pflanze überreichte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. »Wie viele Exemplare sind denn im Umlauf? Und wo? Und nach welchen Kriterien wird entschieden?«

»Bloß keine Zeit verlieren, ne?«, stieß Sonja zwischen den Zähnen hervor. Ihr Blick wanderte über die anderen Stände, an denen neuartige Herstellungsmethoden, allerlei Pasta- und Nudelsorten angepriesen wurden, und mit einem Mal kam ihr die verlockende Vorstellung in den Sinn, wie man daraus Maultaschen herstellen könnte – auch wenn sie durchaus wusste, wie man sie machte. In diesem Moment hätte sie auch mit einem Zeugen Jehovas gesprochen, nur um dieser äußerst unangenehmen Situation entfliehen zu können. Warum konnte die Intergastra denn nicht gleichzeitig zur Tuning World stattfinden? Dann hätte Sarah sie niemals versucht, zu überreden, mitzukommen, sondern hätte sie tagelang mit ihrer Liebe zu schönen, schnellen und teuren Autos aufgezogen. Zurecht, wenn sie ehrlich war. Sie liebte den Anblick schöner Karosserien, auch wenn sie von den Besonderheiten spezieller Modelle nicht viel Ahnung hatte. Doch den Rausch der Geschwindigkeit, weiches Leder auf der Haut – sie könnte stundenlang über die Autobahn brettern, länger, als sich hier auf der Intergastra tot zu schwitzen und sich Sarahs Geschwätz anzutun. Wären sie durch all die Jahre Küchendienst nicht zwangsläufig Freundinnen geworden – wenn man es denn als Freundschaft bezeichnen wollte -, wäre sie wohl heute nicht mitgekommen. Aber der Schaden, der entstanden wäre, wenn Jannis oder einer dieser Ja-Sager mitgekommen wäre, wäre nicht auszudenken. Peter wäre ausgeflippt. Sarah hätte großkotzig eingekauft, die andere hätten es nie gewagt, ihr zu widersprechen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. So hatte sie wenigstens schlimmeres verhindern und Sarah davon abhalten können, Küchengerätschaften zu kaufen, die zwar super aussahen, aber absolut unnötig waren. Jetzt musste sie nur noch verhindern, dass Sarah diese Pflanze in die Finger bekam. Sonja seufzte. Das Leben kann echt scheiße sein, aber immerhin ist es kurz und wenn ich mir die Assistentin und diesen Forscher so anschau, könnte ich es durchaus schlimmer erwischt haben und mich intensiver mit Sarah auseinandersetzen.

»Ich wüsste nicht, warum Sie das interessieren sollte, junge Dame.« Der Forscher lachte gekünstelt, wohl um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, doch Sonja hatte durchaus bemerkt, dass Sarah zu weit gegangen war. »Aber ich kann Ihnen versichern, das hier« – er deutete auf die Pflanze – »ist das letzte Exemplar, das wir einem Gastronomiebetrieb zur Verfügung stellen können.«

»Dann sollten Sie klug handeln und mir die letzte Pflanze mitgeben.« Sarah lächelte den Laborkittelträger breit und strahlend an. »Und warum sollte ich das tun? Welchen Nutzen hätte es, Sie in die Testgruppe aufzunehmen? Ihnen das letzte Exemplar zu geben?« Der Forscher beugte sich vor. Sonja fiel auf, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste. Die ganze Vorstellung wurde ihr immer unheimlicher.

»Lass uns gehen! Sarah, komm schon. Hier stimmt was nicht. Ich trau dem Ganzen nicht. Lass es einfach gut sein.« Worte der Vernunft erreichten Sarah schon im Normalzustand selten, doch war sie auf Beutefang, so wie jetzt, war es schier unmöglich, zu ihr durchzudringen.

»Wir beide«, Sarah deutete auf Sonja, »sind Küchenchefinnen im angesagtesten Laden ganz Tübingens. Der Irish Pub. Wir sind für unsere außergewöhnliche Küche bekannt und haben immer ein volles Haus. Es wäre also nur von Vorteil, uns diese Pflanze mitzugeben, da sie so viele, richtig viele Veganer und Vegetarier erreichen.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sonja rieb sich den Nacken.

»Wir sind beliebt. Jeden Abend und jeden Mittag rennen uns die Leute die Bude ein. Wir sind DER Szene-Laden schlechthin.« Sarah lief zu Hochtouren auf. »Es hat also nicht nur den Vorteil, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, sondern auch außerhalb Stuttgarts bekannt zu werden. Win-win-Situation für uns beide.« Bei jedem Wort war sie einen Schritt näher an den Forscher getreten, bis sie ihm letzten Endes ins Gesicht starrte, ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Augen leuchteten und Sonja wusste, dass Sarah den Geldregen geradezu vor sich sah. Ein kurzer Blick auf das Gesicht des Forschers zeigte ihr, dass es ihm ähnlich ging.

Sonja seufzte. Super.

»Die Möglichkeiten, die Forschungsarbeiten auszuweiten, Tübinger Studenten miteinzubeziehen – wir haben immerhin die berühmte Morgenstelle! – stellen Sie sich doch nur mal all diese Möglichkeiten vor!« Sarah war Feuer und Flamme.

Ja, ja. Die Möglichkeiten. Weil unsere Lebensmittel-Genforschung ja auch so ausgeprägt ist!

»Ich …«

»Was denken Sie denn da noch lange darüber nach! Es bleibt Ihnen eigentlich nichts anderes übrig, als uns diese Pflanze mitzugeben. Wir sind die Zukunft Ihrer Forschung! Mit unserer Hilfe werden Sie mehr Ergebnisse bekommen, als mit allen Restaurants in Stuttgart zusammen!«

Sonja wandte den Kopf ab. Sarahs Überzeugungsargumente schlugen eine Richtung ein, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Sarah, übertreib es nicht! Bleib bei der Wahrheit – und in der Realität!«, zischte sie der Freundin ins Ohr. »Langsam, aber sicher ist es genug!«

»Du hast einfach keine Ahnung, wie man sich verkauft. Und jetzt lass mich!«

»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich bin raus! Das musst du alleine machen.«

»Das bin ich ja schon gewohnt. Wenn es hart auf hart kommt, taugt keiner von euch was. Nur wenn ich das selbst in die Hand nehm, wird das was!«

Sonja verdrehte die Augen. »Meld dich, wenn du nach Hause willst. Ich geh noch bisschen in die Stadt.«

»Jaja, schon recht.« Sarah schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Sonja warf einen letzten Blick auf die Freundin, bevor sie dem Stand den Rücken zukehrte. Und noch während sie aus der Messehalle ging, langsam, durch die Menschenströme geblockt und behindert, konnte sie hören, wie Sarah immer noch auf den Forscher einsprach und ihn zu überzeugen versuchte. Sonja schüttelte den Kopf. Sollte es Sarah gelingen, diese Bacon-Pflanze zu bekommen, würde sie die nächsten Tage, Wochen, Monate wie ein aufgeblasener Gockel herumstolzieren. Sie konnte schon jetzt die Serviceleute hören, die sich lautstark beschwerten. Und Sarah, die mit allen Mitteln versuchte, sich einen großen Vorteil an Macht und Privilegien zu sichern. Konnte sie nicht einfach wieder schwanger werden?

Lea

Blut lief in einem dünnen Rinnsal ihren Arm hinunter. Sie tastete ihre Schulter ab, suchte die Stelle, an der das Blut herausfloss. Zwar blutete die Wunde über ihrem Schlüsselbein, aber offensichtlich war es nur eine kleine Fleischwunde. Warum hatte sie auch mit aller Macht versucht, über den Maschendrahtzaun zu klettern? Nur weil der Weg kürzer war und an den Militärstationen vorbeiführte? An den Sicherheitskontrollen und Überwachungstürmen? Sie fluchte – und hätte sich am liebsten im selben Moment dafür geohrfeigt. Eigentlich sollte sie es besser wissen: Ein falscher Laut, eine falsche Bewegung und sie würden sie finden. Sie jagen. Sie verfolgen. Sie fressen. Lea dachte oft an die Zeit, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Als ihr Vater noch lebte und ihr den Weg wies. Ihr zeigte, wo sie sich verstecken konnte. Doch das war schon lange vorbei. Er war tot. War ihnen zum Opfer gefallen. Hatte es getan, um Lea zu schützen. Gestorben, weil sie unbedingt in der Staatsgalerie übernachten wollte. Sie ein letztes Mal sehen wollte, bevor die Zone geschlossen wurde.

Ein schlurfendes Geräusch, ließ sie herumfahren. Reglos verharrte sie, lauschte. Lea hielt den Atem an, zog aus der zerschlissenen Umhängetasche ihren Schutzumhang hervor und warf ihn sich über. Beim Verwesungsgeruch, der sich um sie legte, überschlug sich ihr Magen und sie kämpfte den Würgereiz nieder. Wenn sie sich jetzt übergab, wäre sie verloren. Ob mit »Schutzumhang« oder ohne. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Mit der Technik, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, reduzierte sie ihren Herzschlag auf ein Minimum. Senkte ihn, so dass ihr Herz nur noch ganz langsam schlug. Gleichzeitig atmete sie flacher, bewegte sich wie in Zeitlupe und zog den Umhang enger, bevor sie im Schutz der Dunkelheit vorwärtsging. Sie achtete darauf, bei jedem Schritt ein Bein hinterherzuziehen, zu schlurfen und dabei möglichst wenig menschlich zu wirken. Nicht auffallen, nicht sprechen, keine Lebenszeichen – zumindest keine allzu deutlichen – zu zeigen. Das waren die Dinge, die ihr Vater ihr eingeschärft hatte. Sie zog den Umhang noch etwas fester und setzte sie ihren Weg fort. Der Verwesungsgeruch wurde stärker. Kam näher. So nah! Sie waren so nah! Doch Lea kannte die Gassen und dem Verfall ausgelieferten Gebäude um die Staatsgalerie besser als jeder andere. Sie würde unbemerkt an ihnen vorbeikommen, und wenn die Galerie erst einmal in Sichtweite lag, wenn sie die erste Falle aktivieren konnte, dann würde sie sich zu erkennen geben. Und würde sich neue Beute verschaffen. Lea lächelte. Die Staatsgalerie war ihr Zuhause. Ihre Zuflucht. Und zugleich die Ruhestätte ihres Vaters. Sie würden Lea nicht kriegen.

 

Sie blinzelte gegen die Sonne, als sie aus den dunklen Schatten trat. Schlurfend, wie eine von ihnen. Inmitten von ihnen. Lea bemühte sich, ihren Herzschlag weiterhin niedrig zu halten. Flach zu atmen. Wie eine von ihnen. Sie hatte sie lange genug beobachtet, um zu wissen, wie sie sich bewegen musste. Wie sie den Kopf halten musste. Was sie tun musste, um sie zu fangen. Unwillkürlich entwich ihr ein Knurren. Der Gedanke an ihren Vater, an ihre Schwester – was sie getan hatten, brachte Lea dazu, jede Vorsicht zu vergessen. Doch offenbar war ihr Knurren nicht aufgefallen. Natürlich nicht. Denn diese Wesen nur auf eindeutig menschliche Laute.

Vor ihr gelangte die Staatsgalerie in Sichtweite. Nicht mehr lange und sie würde ihren Schutzumhang fallen lassen können. Sich als Mensch zu erkennen geben. Andreas würde schon dafür sorgen, dass sie sie nicht bekamen. Wahrscheinlich saß er schon auf seinem Posten. Lea hoffte es zumindest.

Andreas. Wenn sie an ihn dachte, wurde ihr warm ums Herz. Ohne ihn hätte sie längst aufgegeben. Ihrem Leben ein Ende gesetzt. Wäre dem Weg ihrer Familie gefolgt. Doch so – so kämpfte sie um das Leben, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Lea lächelte. Ja, es war jetzt nicht besonders gut, aber es war ein Leben. Mit allem, was sie brauchte. Nun, fast allem.

Eine Bewegung neben ihr, ließ sie aufschrecken. Der Infizierte zu ihrer Rechten bewegte sich überraschend schnell auf sie zu. Schnuppernd, beinahe schnüffeln hatte er sich ihr zugewandt. Lief hinter ihr her. Lea musste all ihre Willenskraft aufbringen, um ihr Herz weiterhin ruhig schlagen zu lassen. Den Blick möglichst ausdruckslos starrte sie ihm ins Gesicht. Nichts geschah. Er schnüffelte erneut, sog die Luft tief ein. Seine Augen weiteten sich – Gier blitzte darin auf. Er fletschte die Zähne und ein raubtierhaftes Knurren drang aus seiner Kehle. Lea wusste, sie konnte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, sonst würden sie sie bekommen. Der Infizierte gab ein Geräusch von sich, das ihr durch Mark und Bein ging. Lea wusste: Er hatte sie durchschaut.

Mit einem Schrei der Verzweiflung warf sie den Umhang von sich und rannte los. Sie rannte direkt auf die Galerie zu. Schlug Haken. Wich den Infizierten aus, die sich so ungewöhnlich schnell bewegten. Das Virus hatte sich weiterentwickelt. Hatte die Befallenen schneller, aggressiver, aber keineswegs klüger gemacht.

Doch Lea war darauf vorbereitet. Andreas und sie hatten unermüdlich trainiert – was ihr in diesem Moment einen Vorteil verschaffte. Wendig und schnell rannte sie zwischen den Infizierten hindurch, wich den gierigen Händen aus und pfiff dabei in gellender Lautstärke. Ihr Zeichen für Andreas. Mit etwas Glück würde sich vielleicht auch das Militär einschalten – immerhin war dies Sperrgebiet und stand unter ständiger Beobachtung. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Himmel. Sie suchte die Helikopter. Die Schützen. Doch dieses Mal schienen sich die Freunde der Tarnfarben zurückzuhalten und glänzten durch Abwesenheit. Lea fluchte. Falscher Zeitpunkt, Jungs! Sie hätte absolut nichts dagegen gehabt, wenn sich das Militär selbst zu dieser Party eingeladen und die Infizierten unter Beschuss genommen hätte.

Etwas packte sie am Handgelenk. Lea zerrte, kam aber nicht frei. Das Gesicht des Infizierten hatte sich zu einer hungrigen Fratze verzerrt – angsteinflößend und gierig. Geifer lief ihm aus dem weit aufgerissenen Mund, ein Aufblitzen fauliger Zähne. Sein Atem schlug ihr entgegen und verbreitete dabei den Gestank von Tod, Blut und Fleisch. Lea spürte, wie sich ihr Magen wieder verkrampfte, und kämpfte mit aller Macht die Galle nieder. Er roch ihr Blut, das wusste sie. Sie hätte sich vielleicht doch etwas um die Wunde binden sollen. Einen Verband, den sie dann mit der Haut der Infizierten umwickelt hätte. So hatte sie sich auf ihren wallenden Schutzumhang verlassen, was anscheinend ein Fehler gewesen war. Der Infizierte zog ihren Arm zu sich heran, wollte hineinbeißen. Lea stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Sie wusste, ein Biss und sie würde wie sie werden.

»Lass mich los!«, schrie sie. Lea wusste sich nicht anders zu helfen. Sie trat nach dem Infizierten, schlug ihm mit der freien Hand ins Gesicht. Andere Infizierte wurden auf sie aufmerksam, kamen näher. Schlurfend. Schnüffelnd. Geifernd. Und nach ihrem Fleisch gierend. Lea griff in ihre Tasche. Suchte ihre Waffe, eine kleine Beretta, die sie einem sterbenden Polizisten abgenommen hatte. Im allerletzten Moment umschlossen ihre Finger die Waffe, rissen sie heraus und Lea schoss dem Infizierten mitten ins Gesicht. Der Griff um ihr Handgelenk löste sich. Und Lea rannte. Sie musste doch nur den Vorhof erreichen. Nur diese eine Markierung passieren. Dann würde Andreas die Infizierten, die ihr folgten, ausschalten und sie wäre in Sicherheit. Lea beschleunigte ihre Schritte, die Pistole in der Hand. Das kühle Metall wirkte geradezu beruhigend, gab ihr ein Gefühl von Schutz.

Ein Schuss ertönte.

Noch einer.

Und noch einer.

Lea hätte am liebsten geweint. Erschöpft rannte sie weiter, stolperte, spürte jeden Muskel ihres Körpers. Ihre Beine zitterten. Über ihr erklangen die rotierenden Hubschrauberblätter und Erleichterung durchströmte Lea, der ihr neuen Auftrieb gab. Andreas hatte sicherlich längst seinen Posten bezogen. Obendrein hielt ihr das Militär endlich den Rücken frei. Lea stolperte die Stufen zur Staatsgalerie hinauf. Mit letzter Kraft drückte sie den Schalter, der die Fallen aktivierte, die Andreas und sie sich aus den Ausstellungsstücken und dem Inventar der Kaufhäuser im Umfeld konstruiert hatten und lehnte sich mit einem Seufzer gegen eine Säule, um wieder zu Atem zu kommen. Das Surren der Laser beruhigte ihre Nerven. Lea lehnte ihre Stirn an die Säule, kühlte die erhitzte Haut am Stein.

»Lea!« Sie schreckte auf. »Lea, beweg deinen Arsch hier rein!«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Andreas‘ nette Aufforderung konnte sie unmöglich ignorieren. Sie warf einen letzten Blick auf die Infizierten, die ihr gefolgt waren, bevor sie durch den Eingang schlüpfte und Andreas gegenüberstand.

»Na, du hast dir ja ordentlich Zeit gelassen! Nichts geht über einen kleinen Abenteuerspaziergang, hab ich recht?«

»Du bist manchmal ein echter Penner, hat dir das schon Mal einer gesagt?« Lea strich sich eine Strähne hinters Ohr und atmete tief durch. »Hölle, war das knapp!«

»Und es ist noch nicht vorbei!« Andreas zog sie von der Tür weg. »Sie haben den ersten Ring durchbrochen. Unsere Freunde vom Militär sind zwar fleißig dabei, alles niederzuschießen, was sich bewegt, aber es haben zwei oder drei ihren Weg durch unsere erste Laserschranke gemacht. Was willst du jetzt tun? Abwarten und zusehen, ob sie die Tesla-Schranke überleben oder dich wie Rambo dem Schussfeuer anschließen?«

»Nun, einer sollte in eine der Fallen tappen. Schließlich habe ich meinen Schutzumhang verloren. Und du weißt, wie begehrt diese Umhänge auf dem Schwarzmarkt sind.«

»Also warten wir?« Andreas schien von dieser Idee nicht gerade begeistert zu sein. Lea seufzte, wollte gerade etwas sagen, als sie eine Bewegung auf einem der Überwachungsmonitore bemerkte. Eine Bewegung, die sie nicht erwartet hatte. Einer der Infizierten stand vor der Eingangstür der Staatsgalerie und starrte direkt in die Kamera.

»Lea? Lea, siehst du das?«

»Was zum Teufel …? Andi, ich glaube, du kannst jetzt zeigen, wieviel Rambo in dir steckt.« Lea griff nach den Waffen im Schrank neben der Tür, wählte eine Schrotflinte und verzog das Gesicht, während sie sie durchlud. »Auf geht’s! Schießen wir ein paar Infizierten die Gesichter weg!«

 

Lea stand auf dem Vordach des Eingangspavillons, zwischen zwei der gläsernen Dreiecke, und schoss. Der Rückstoß der Schrotflinte drückte sie immer weiter an die Wand des Pavillons. Schmerzhaft drückte der Stein in ihren Rücken, doch wenn sie Andreas nicht die volle Wahrheit sagen wollte, musste sie den Schein bewahren und auf die Infizierten schießen. Mit der Schrotflinte war sie nicht so effizient wie Andreas mit seinem Gewehr – er erinnerte sie an ihren kleinen Bruder, der in den Ego-Shooter immer die Rolle des Snipers gewählte hatte. Andreas lag auf dem Dach des Pavillons, völlig auf die Infizierten konzentriert, bereit, jeden Einzelnen zu töten. Lea lud nach, biss sich auf die Unterlippe und schoss erneut auf einen Infizierten. Es war eigentlich vollkommen unnötig und nichts als Munitionsverschwendung, aber es war etwas, was sie tun musste, wenn sie die Fassade aufrechterhalten wollte. Dabei würde keiner durch die Galerie in ihr Versteck gelangen, selbst wenn einer der Infizierten durch den Haupteingang eindrang. Sie hatte so viele Fallen konstruiert, so viele Hindernisse aufgebaut – das, was Andreas und sie taten, war einfach nur unnötig.

»Lea!«

Sie hob den Kopf. Andreas deutete auf eine kleine Gruppe Soldaten, die sich der Galerie näherten und die Infizierten vor sich hertrieb.

»Was machen die da? Lea! Was machen die da?«

»Ich weiß es nicht!« Und wie sie es wusste. »Lass uns nach drinnen gehen! Ins Versteck! Wir können alles über die Monitore beobachten, aber so können sie nicht zufällig auf uns schießen. Sie wollen uns hier nicht haben. Das weißt du. Die Sperrzone ist nun mal für die Gesunden verboten. Und das werden sie durchsetzen. «

»Aber sie, die Infizierten …«

»Andreas! Du weißt, sie kommen hier nicht lebend durch! Wie oft müssen wir uns denn noch darüber streiten?« Lea kletterte zu ihm aufs Dach. »Komm jetzt! Bevor sie wirklich auf uns zielen!« Lea zog Andreas zur Luke, die ins Innere der Galerie führte, und klettere hindurch.

»Lea! Was ist mit den Infizierten? Was, wenn sie durchkommen? Was, wenn die Jungs vom Militär sie nicht in Schach halten können? Die treiben sie doch direkt auf uns zu!«

»Jetzt komm endlich rein! Himmel! Und geh mir nicht auf die Nerven!« Lea schüttelte den Kopf. »Komm jetzt!« Sie zog Andreas mit sich, beide schulterten ihre Waffen. Sie kamen jedoch nicht weit, denn ein ohrenbetäubendes Poltern ertönte an der Eingangstür des Pavillons. Erschrocken fuhren sie beide herum, Lea lud die Waffe durch, Andreas zielte mit zitternder Hand auf den Eingang.

»Spar dir dein >Ich hab’s dir ja gesagt<!«, knurrte Lea und lief langsam rückwärts. Das Poltern vermischte sich mit einem Kratzen. Schüsse erklangen.

»Ja, ich sag ja schon nichts! Aber …«

»Nichts aber! Los! Lauf!«, schrie Lea, drehte sich um und rannte. »Andreas! Oder willst du gefressen werden, falls sie durchbrechen?« Oder gebraten, dachte sie, wenn ich alles aktiviert habe. Der Kontrollraum. Ihr Hafen. Ihre Burg in diesem von Fallen wimmelnden Labyrinth. Egal wie viele Sorgen sich Andreas machte, wie oft er glaubte, sie würden durchbrechen – keiner von ihnen war jemals bis zum Direktionsgebäude gelangt. Keiner hatte je den Kontrollraum erreicht.

Im Vorbeigehen drückte sie die Schalter. Aktivierte die Fallen. Die Tesla-Laser-Fallen. Die Stacheldraht-Fallen. Alles, was sie sich zusammengebastelt hatte. Auch die Fallgruben. Die Fangnetze mit den Schockimpulsen, von denen Andreas nichts wusste. Und niemals etwas erfahren würde.

»Lea! Bist du sicher, dass sie nicht durchbrechen können?«

»Andreas!«, keuchte sie. »Halt. Die. Fresse!« Sie schlitterte über den glatten Boden, bog schwungvoll um eine Ecke und krachte gegen die Wand. Die Schrotflinte drückte ihr unangenehm ins Fleisch. Schmerz durchfuhr sie, als sie sich den Kolben ins Knie rammte.

»Alles Okay bei dir?« Andreas war stehengeblieben. Stand einfach nur da und sah sie an.

»Steh doch nicht so dumm rum!« Lea spürte, wie ihr die Wuttränen über die Augenlider quollen wollten. Sie griff Andreas’ Hand, rannte weiter, riss ihn mit. »Komm endlich! Himmelherrgott! Für jemanden mit deinen Panikattacken bist du echt unvorsichtig!« Die Flinte schlug ihr beim Laufen gegen die Hüfte, Andreas‘ Hand rutschte vor Schweiß beinahe aus ihrer. Lea rümpfte die Nase. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht tatsächlich ohne ihn besser dran wäre. Mit schmerzhaft verkrampften Oberschenkelmuskeln und zitternden Knien stolperte sie endlich die Treppen zum Kontrollraum hinauf. Die metallene Sicherheitstür glänzte im hereinfallenden Sonnenlicht – ein Augenblick, der sie ungemein beruhigte. Sie beschleunigte ihre Schritte, mobilisierte ihre letzten Kräfte.

»Lea, bist du sicher, dass …«

»Andreas! Lass es jetzt gut sein!« Lea keuchte, japste nach Atem. Mit zitternden Händen tippte sie die Kombination für das Sicherheitsschloss und ignorierte Andreas. Mit einem tiefen Knarzen schwang die Tür im Schneckentempo auf. Notiz an mich: Öle diese verdammte Tür! Sie huschten hinein und Andreas drückte den Knopf, so dass die Tür wieder im gleichen unpassenden Tempo zuschwang, und lächelte Lea an. »Wir haben es geschafft! Wir sind in Sicherheit!«

»Hurra!«, murmelte Lea monoton. Sie warf sich auf einen der Schreibtischstühle vor den Monitoren und atmete tief durch. Was hätte sie jetzt nicht alles für eine Valium gegeben! Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich zu entspannen. »Und nun? Was machen wir jetzt?«

Sie rieb sich die Schläfen. »Valium. Jetzt!«, hätte sie am liebsten geantwortet. Doch stattdessen sagte sie: »Wir machen dasselbe wie jeden Abend. Wir warten ab. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Dann drehen die ja sowieso am Rad.« Lea gähnte. »Also, lass uns unsere Kräfte sammeln, damit wir morgen einigermaßen ausgeruht auf dem Schwarzmarkt ankommen.«

»Du hast wohl gute Beute gemacht?«

Lea schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Tasche. Sie lächelte, als sie den angewiderten Gesichtsausdruck Andreas‘ wahrnahm, der das getrocknete Blut auf der Taschenoberseite bemerkt haben musste. Neben dem strengen Geruch der Verwesung.

»Boah! Muss das so stinken?«, fragte er.

»Soll ich dir noch einmal erklären, wie wichtig unsere Tarnung ist? Hast du es den immer noch nicht begriffen?« So gern sie ihn auch hatte, an manchen Tagen benahm er sich wie der letzte Trottel. Wären die Infizierten nicht auf Gehirne aus gewesen, hätte er sich an Tagen wie diesem nicht vor ihnen verstecken müssen! Mit einem tiefen Seufzer stand sie widerwillig auf, kippte den Inhalt der Tasche aus und warf Andreas einen vielsagenden Blick zu. »War das jetzt so schwierig?«

»Ja!« Andreas beugte sich vor, sog die Luft ein. »Bäh! Lea! Du stinkst wie die!«

Lea sparte sich eine Erwiderung, ging zu den Monitoren hinüber und starrte auf die Infizierten, die vom Militär zur Galerie getrieben wurden.

»Was machen die da?« Andreas war hinter sie getreten. »Die treiben die Kranken ja voll in unsere Richtung! Wollen die uns damit einschüchtern?«

Lea nahm sich vor, Max zu danken, dass er ihr wieder einmal neue Beute lieferte.

»Nein. Ich nehm‘ an, sie treiben sie einfach in die Enge. Auf freiem Feld sind die Infizierten schwieriger zu treffen, als wenn sie auf einem Haufen stehen.« Sie schnüffelte. Okay, es war Zeit, sich sauber zu machen. »Mach dir nicht ins Hemd! Es wird schon nichts passieren.« Sie zwinkerte ihm zu, bevor sie in dem Raum verschwand, den sie zum Bad umfunktioniert hatten. Regenwasser, Seife – mehr an Luxus gab es nicht. Und selbst damit musste sparsam umgegangen werden.

»Lea, ich bin nur vorsichtig. Ich mache mir halt Sorgen, wenn du da draußen alleine unterwegs bist. Du musst deswegen nicht gleich gemein zu mir sein!«

»Ich …« Lea prustete, als sie Wasser in den Mund bekam. »Ich bin nicht gemein zu dir! Nicht absichtlich! Ich bin einfach nur furchtbar gestresst. Tut mir leid.« Zum Glück konnte Andreas ihr Gesicht nicht sehen, denn Lea verzog bei der Lüge, die ihr so einfach über die Lippen gekommen war, das Gesicht. Sie war wirklich nicht absichtlich gemein zu ihm, aber es war ermüdend, fast alles alleine tun zu müssen. Für alles alleine verantwortlich zu sein.

Und trotzdem – sie wollte ihn nicht verletzen. Er war das Einzige, was ihr an Familie geblieben war. Der Einzige. Sie drängte bei dem Gedanken mit aller Macht ihre Tränen zurück. Als sie das Kalte Regenwasser abstellte, fühlte sie sich erleichtert und fing fast im selben Moment damit an, sich die Haut warm zu rubbeln. Der vermutlich größte Nachteil, wenn die Zivilisation zusammenbrach, war die mangelnde elektrische Versorgung.

Keine Heizung. Kein warmes Wasser. Lea wollte bestimmt nicht an den Winter denken.

»Er tut mir wirklich leid«, erklärte sie, während sie ihre frischen Sachen anzog. Und jetzt, dachte sie, muss er nur noch antworten: Dann lass mich dir helfen! Ich kann doch mitkommen! Zu zweit können wir mehr tragen und uns besser verteidigen! Du musst nicht alles alleine machen! Ich bin für dich da! Du musst es nur zulassen!

Lea biss sich auf die Lippe. »Nun gut … wenn du unbedingt möchtest, dann soll es so sein. Dann kommst du morgen einfach mit.« Unwillkürlich musste sie lächeln, als sich Andreas’ Gesicht aufhellte.

»Du siehst müde aus.« Eine gewisse Sorge klang in seinen Worten an. Mit einem Klopfen deutete er ihr, sich neben ihn zu setzen. Das Feldbett, dieses klapprige Etwas, sah tatsächlich mit einem Mal unglaublich verlockend aus. Ihr erster Impuls wollte ihm widersprechen, wollte etwas anderes tun. Doch dann gab sie nach und ließ sich neben ihm nieder. Mit geschlossenen Augen genoss sie seine Hände auf ihrer Haut. Die sanften Berührungen. Die wohltuende Massage.

Schließlich versank sie in einem erholsamen Schlaf.