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Isabelle
»Du hast gesagt, in Stuttgart hat es angefangen?«, fragte Isabelle. Sonja nickte. Alex war ihr über den Rückspiegel hinweg einen seltsamen Blick zu. Isabelle biss sich auf die Unterlippe. Ihr Mann wollte heute nach Vaihingen. Vielleicht hatte Nadja ihn aber doch dazu überreden können, mit ihr im botanischen Garten zu picknicken. Zumindest hoffe Isabelle, nach allem, was im Pub geschehen war, dass ihre kleine Tochter erfolgreich gewesen war. Falls nicht, würde ihr keine andere Wahl bleiben, als … »Dann sollten wir nach Stuttgart gehen. Irgendwie. Und die Wahrheit ans Licht bringen.« Und mir die Möglichkeit geben, nach meiner Familie zu schauen.
»Du meinst, wir brechen in das Labor ein und besorgen die Forschungsunterlagen?« Sonja klang skeptisch und Isabelle konnte mühelos heraushören, dass ihr dieser Gedanke nicht gefiel. »Eigentlich keine schlechte Idee. Aber wie sollen wir da reinkommen? Wie sollen wir das Labor überhaupt finden?«
Isabelle unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Es war nur natürlich, dass Sonja ihren Vorschlag hinterfragte, sie selbst würde ja nicht anders handeln, aber sie hatte jetzt bei Weitem andere Sorgen, als gegen Sonjas Skepsis anzukämpfen. Doch sie würde anders nicht weiterkommen. Fieberhaft überlegte sie sich eine Antwort, als sie unerwartete Hilfe bekam.
»Das sollte kein Problem sein«, bemerkte Jennie zu Isas Erstaunen. »Wenn du den Namen hast, dann wird man das sicher finden. Das Internet vergisst nichts, und wenn der da irgendwie auf diese Pflanze stolz ist, wird man da sicher was finden.«
»Ich bin mir sicher, dass das nicht so einfach ist«, meinte Isa und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, kaum hatte sie den Mund geschlossen. Klasse gemacht, Isabelle. Willst du nun zu deinem Mann oder nicht?
»Sei kein Spielverderber, Isa. Sonja, wie hieß der Kerl?« Isa gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen, als sie sah, wie Jennie ihr Smartphone in der Hand hielt. Keine Spur von Schock oder Entsetzen in ihrem Gesicht, nein, die Freundin und Kollegin wirkte nahezu rational, emotionslos. Nicht einmal Linda würde so ruhig bleiben, da war sich Isa sicher. Ob sie wollte oder nicht, sie war beeindruckt.
»Baumann.« Kurz und knapp – typisch Sonja. Während Jennie tippte, konnte Isabelle nicht widerstehen. Sie spähte über deren Schulter und zählte innerlich bis zehn, während das Internet lud und lud.
»Na also. Also, er befindet sich im Laboratorium für Lebensmittelforschung und Nahrungstechnologie. Das sollte wohl nicht schwer zu finden sein. Das Gebäude ist direkt am Schloss. Vor ein paar Jahren frisch erbaut.«
Isa nickte, langsam. Sie wusste nicht, wie sie jetzt reagieren sollte, ohne ihre wahren Absichten zu verraten.
»Selbst wenn er die Unterlagen zu der Bacon-Pflanze nicht da hat, werden wir dort Hinweise darauf finden, wo sich das eigentliche Labor befindet.« Jennie klang erstaunlich zuversichtlich, fand Isa. Angesichts der Lage vielleicht etwas zu zuversichtlich, aber jeder wie er mochte. Als Alex abbog, wusste Isa, sie musste handeln. Musste sich überzeugen, ob Mann und Kind zu Hause waren.
Alex, du musst hier andersrum abbiegen. Ich muss nach Hause!« Sie beugte sich vor, ihr Gesicht auf Höhe seines Kopfes. »Ich wohn da vorne. Wir müssen meinen Mann und meine Tochter mitnehmen.« Oder nachschauen, ob sie Zuhause sind. Wenn ja, dann muss ich nicht mit nach Stuttgart. Wenn nein, naja, dann hab ich wohl keine andere Wahl.
»Dafür haben wir keine Zeit. Schreib ihnen. Schreib ihnen und sag ihnen, dass sie aus der Stadt fliehen sollen.«
»Aber zu mir können wir doch, oder? Ich will wenigstens noch ein, zwei Sachen mitnehmen. Glücksbringer, wenn du so magst.« Jennie drängte sich neben Isa, stieß sie etwas zur Seite. Isa unterdrückte ein Fauchen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Leute, so sehr ich euch auch verstehe, aber dafür bleibt keine Zeit. Das geht nicht. Wenn die Lage so bleibt, können wir ja wieder zurückkehren und alles holen. Aber Jennies Plan ist gut. Wir müssen nach Stuttgart. Wir müssen die Öffentlichkeit über alles informieren. Und ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird.«
Isa wusste, dass Sonja recht hatte. Ihr war auch klar, dass Sonja auf ihre Hilfe baute. Stuttgart war abgeriegelt – nach den Ereignissen im Pub fiel ihr das nicht mehr so schwer zu glauben. Sie verstand auch dieses Hin- und Herfahren, auch wenn sie es für absolut schwachsinnig hielt. Da hätte es sicher auch einfachere Wege gegeben, die von Sonja gebunkerten Sachen mitzunehmen. Nur Esther – das war für Isa der einzig wirklich nachvollziehbare Grund für das ganze Chaos. Es war viel zeitaufwendiger, erst zu Sonja, dann zum Pub zu fahren, doch sie hielt den Mund. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten oder zu diskutieren. Jetzt musste sie schnell schalten. Jetzt musste sie sich ganz schnell etwas einfallen lassen. Isa ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Alex würde nicht zu ihr fahren, das war sicher, doch sie konnte auch nicht bei ihnen bleiben. Ja, natürlich war sie auch der Meinung, die Wahrheit müsse an die Öffentlichkeit geraten, aber sie wollte erst einmal ihre Familie in Sicherheit wissen. Danach war sie bereit, jeder Zeitung, jedem Reporter Rede und Antwort zu stehen.
Die Ampel wechselte von Grün auf Rot, Alex bremste und hielt pflichtbewusst an. Isa schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, schluckte – und sprang aus dem Auto. Es war vielleicht dumm. Es war vielleicht unverantwortlich. Aber es war die einzige Möglichkeit, die Isa sah, um zu ihrer Familie zu gelangen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, ignorierte sie das schlechte Gewissen, das ungute Gefühl, das sich in ihr ausbreitete und rannte. Sie wich den hupenden Autos aus, rannte über die vierspurige Straße. Jennie schien ihrem Beispiel zu folgen, wie ein weiteres Knallen einer Tür zeigte. Sie taten also alle genau das, was man in solchen Situationen nicht tun sollte: Sich trennen und einzeln durchschlagen. Aber Isabelle konnte nicht anders. Ihre Familie war ihr nun einmal wichtiger.
Sie schlüpfte durch die Studentengruppen hindurch, wich flink einzelnen Menschen aus. So friedlich, so ruhig – keiner von ihnen ahnte von der Gefahr, die ihnen drohte. Missbilligende Blicke, verärgerte Ausrufe – Isabelle scherte sich nicht darum, was man von ihr hielt. Sie rannte einfach weiter. Musste weiterrennen. Stehen bleiben würde zu viel Zeit kosten. Wertvolle Zeit, die ihre beiden Liebsten vielleicht nicht mehr hätten.
»Ey! Pass doch auf!«
Isa strauchelte. Für einen kurzen Augenblick war sie abgelenkt gewesen. Hatte einen Skaterboarder übersehen. Sie stolperte einige Schritte, brauchte einen Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, sich wieder zu fangen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung lief sie weiter. Kümmerte sich nicht darum, um ob er sich verletzt hatte. Ob ihm was passiert war. Die ein, zwei Kratzer würden sein kleinstes Problem sein, wenn die Kacke richtig anfing zu dampfen. Autos hupten, als sie erneut über die Straße hetzte. Die Einbahnstraßen und nicht sonderlich klug geschalteten Ampeln, die zu oft von Rot auf Grün wechselten, erschwerten ihr den Heimweg. Doch schlussendlich hatte sie das Hochhaus erreicht. Schweiß lief ihr in Strömen über Stirn und Rücken. Die kühle Luft im Treppenhaus ließ sie frösteln, obwohl es für deutsche Verhältnisse relativ gutes Wetter war und die Temperatur hoch. Isa sprang die Stufen hinauf, mehrere auf einmal, wusste, viel Zeit blieb ihr nicht, wenn die beiden wirklich nicht in Tübingen waren. Ihre Hand zitterte, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, das Blut rauschte in den Ohren – Isabelle war sich nicht sicher, ob sie nicht gleich ohnmächtig werden würde. Als die Tür endlich aufsprang, war das Erste, was ihr auffiel, das blinkende, rote Licht des Anrufbeantworters. Auch wenn es altmodisch war, Bashir hatte sich durchgesetzt. Er mochte Anrufbeantworter und hinterließ ihr immer wieder kleine, süße Nachrichten, doch etwas sagte Isa, dass diese Nachricht nicht so süß sein würde, wie sonst. Ihr Atem ging stoßweise, sie biss sich auf die Unterlippe, als sie den Knopf drückte und die Nachricht abhörte.
»Schatz, Nadja und ich sind in Vaihingen. Meine alte Professorin hat uns zum Kaffee eingeladen, du weißt doch, wie sehr ich Valerie Baumann schätze. Aber wir sind zurück, bevor du Feierabend hast – und dann haben wir eine Überraschung für dich. Wir lieben dich, Superfrau!«
Isa lächelte, auch wenn ihr nicht wirklich danach war. Ja, die Nachricht war nicht wie sonst voll süßer Liebesbekundungen, sondern mehr informativ, aber leider nicht so, wie sie gehofft hatte. Die beiden waren also mitten in der Gefahrenzone. Das war definitiv nichts, was sie erfreute, aber sie wusste auch, dass Bashier, ihr geliebter Ehemann, seiner alten Ägyptisch-Dozentin nichts abschlagen konnte. Nicht, nachdem sie ihn voreinigen Jahren in Ägypten an der Forschung an einer alten Pyramide beteiligt hatte und sie dort einen sagenhaften Fund alter Schriften gestoßen waren. Seitdem vergötterte Bashier Valerie Baumann Bashier. In schwachen Momenten wurde sie manchmal eiferrsüchtig, doch dann hinterließ ihr Bashier wieder eine süße, liebe Nachricht und alles war vergessen. Doch nun, nun war er mit Nada bei Valerie. In Vaihingen. Unmittelbar an der Sperrzone. Isabelle schluckte, atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Sie wählte die Kurzwahltaste ihres Handys, unter der sie Bashiers Nummer eingespeichert hatte, und wartete. Freizeichen um Freizeichen, doch ihr Mann ging nicht ran.
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Höflichkeit!«, fauchte sie und stecke ihr Handy wieder ein. Gut, dann muss ich wohl einfach auf gut Glück losfahren und schauen, dass ich dich erreich, dachte sie, griff nach ihrem Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Erneut stürmte sie aus dem Haus und kaum hatte sie ihr Auto erreicht, wählte sie erneut seine Nummer, das Handy mit fahrigen Bewegungen in die Freisprechhalterung klemmend.
Kapitel 2
Das Freizeichen nervte sie. Dieser monotone Ton zerrte an ihr, während sie im Schneckentempo aus der Straße fuhr. Wieder einmal bewies Tübingen, dass die stadteigene Straßenführung nichts für Ungeduldige war oder Menschen, die es eilig hatten. Isa knirschte mit den Zähnen, krallte sich am Lenkrad fest, während sie versuchte, dem Drang zu widerstehen, die Fahrer vor ihr anzuschreien und mit einem regelrechten Hupkonzert vor sich herzutreiben. Erfahrungsgemäß ging es dann zwar auch nicht schneller, aber sie konnte zumindest ihrem Unmut freien Lauf lassen. Das Freizeichen tönte laut durch ihr Auto und sie zuckte zusammen. Isabelle seufzte, drehte am Radioknopf. Suchte einen Sender, der dieses nervige Tuten ablösen und ihre Nerven nicht weiter strapazieren würde. Als die Rolling Stones durch den Innenraum ihres Peugot 306 dröhnten, entspannte sie sich etwas. Sie legte auf und beschloss, erst dann wieder zu wählen, wenn sie Tübingen hinter sich gelassen hatte. Zwanzig Minuten müssten reichen, damit Bashier eine Ausrede finden und rangehen konnte. Das Warten trieb sie jedenfalls in den Wahnsinn. Die Rolling Stones schmetterten gerade ihren »Doom and Gloom«-Song, als sie einer schnitt und ohne zu blinken von der äußersten rechten Spur einfach vor sie fuhr und Isabelle nichts anderes übrig blieb, als eine Vollbremsung hinzulegen.
»Du Mongo!« Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, das Hupen der Fahrer hinter ihr brachte sie allerdings wieder auf Spur. Fauchend gab sie wieder Gas, schaltete und fuhr weiter – immer noch langsam.
Sie streckte gerade den Finger aus, um noch einmal die Nummer ihres Mannes zu wählen, als die leise, basslastige Musik zu einem sehr lauten Getöse wurde, das die Nachrichten ankündigte. Isa fluchte. Sie vergaß immer diese automatische Umschaltfunktion auszumachen und erschrak jedes Mal, wenn die Traffic-Funktion griff und die Musik von sehr lauten Nachrichtensprechern mit betont lockeren Sprüchen abgelöst wurde.
»So eben haben wir erfahren, dass es in Tübingen zu Aufständen gekommen sein soll. Natürlich waren wir von SWR3 vor Ort und haben nachgefragt. Wir haben Katja, die direkt am Pub steht, in der Leitung. Katja, was ist da passiert?« Die Stimme des jungen Mannes, dessen Namen sie sich einfach nie merken konnte, klang überaus fröhlich und aufgedreht. »Wie ist denn die Lage in Tübingen?«
»Nun, Kai, hier sieht es echt abenteuerlich aus. Eingeschlagene Fenster, zerbrochene Stühle – Blut. Krass. Ich stehe hier neben dem Chef des Restaurants, der genauso schockiert ist wie ich. Herr Wolf, können Sie mir sagen, was hier geschehen ist?«
Isa hob eine Augenbraue. Das Ganze war so surreal, dass jeder Künstler neidisch werden würde. Zumindest die zahlreichen verkorksten Hipster-Autoren im Brechtbau.
»Das war eindeutig ein Aufmarsch, ein Aufstand. Das waren eindeutig die Leute von Natureen, die mal wieder gegen unsere Burger-Karte gehetzt haben. Die meckern alle paar Wochen und drohen mit einem Aufmarsch, einer Demo. Die haben schon öfters randaliert oder Scheiben eingeworfen.«
Isabelle runzelte die Stirn, als die tiefe Stimme ihres Chefs aus den Boxen drang. »Chefchen, das ist völliger -«
»Die waren das eindeutig. Haben unsere Gäste angegriffen. Meine Angestellten haben sich versteckt, sind geflüchtet. War alles ziemlich gewalttätig.«
»Wie erklären Sie sich das, dass alles voller Blut ist und keine Verletzten gefunden wurden? Dass Gerüchte rumgehen, dass man zahlreiche Leichen herausgetragen hat?«
Gut gesagt, kleine Moderatorin. Isabelle drehte das Radio lauter.
»Das ist nur aufgebauscht. Natureen ist gefährlich, aber niemand ist zu Schaden gekommen. Vor allem droht keinerlei Gefahr, bei uns zu essen. Wir werden natürlich alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann. Aber Natureen muss gestoppt werden!«
Ach, Chefchen. Wer hat dir dieses Märchen erzählt?
»Es wird ja vermutet«, konnte sie die Moderatorin, Katja, sagen hören, »dass der Aufstand was mit der Abriegelung Stuttgarts zu tun hat. Was sagen Sie denn dazu?«
»Ich bin nur der Besitzer des Pubs. Ich habe von einer Abriegelung nur aus der Zeitung gelesen – warum sollte es etwas mit diesen Lebensmittel-Terroristen zu tun haben?«
Isabelle schmunzelte. Ja, da hatte er recht. Der Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen war mehr als dürftig. Wer auch immer diesen Stuss verzapft hatte, wusste genau, was er tat. Nun würden alle Natureen noch skeptischer betrachten, als sie es ohnehin schon taten. Isa fand, sie hatte genug gehört. Als die Moderatorin wieder eine Vermutung äußerte, wechselte sie zurück auf ihre Rolling Stones und wählte endlich erneut die Nummer ihres Mannes. Das erneute Tuten des Freizeichens ließ sie mit den Zähnen knirschen. Gerade, als sie wieder aufgeben wollte, knackte es in der Leitung und Bashiers Stimme war zu hören.
»Baby, was ist los?«
»Schatz, seid ihr noch in Vaihingen? Ist alles in Ordnung bei euch?« Isabelle verschwendete keine Zeit mit Smalltalk. Nicht jetzt. Nicht heute. »Stuttgart ist abgeriegelt – haben sie Vaihingen auch schon abgesperrt? Schatz, nimm Nadja und komm da weg!«
»Ich verstehe nicht. Ja, die Situation in Stuttgart scheint ernst, aber Valeries Mann ist schon mit der Lösung beauftragt. Wir sind hier in Sicherheit. Baby, warum rufst du an? Ist etwas passiert? Und warum willst du, dass wir hier weggehen?«
»Es gab … eine Art Virenbefall im Pub. Das ist alles nicht normal. Wie in diesen schlechten Horrorfilmen. Ich bin auf dem Weg zu euch, ich hol euch ab. Dann fahren wir weit weg. Weit, weit weg.«
»Du arbeitest zu viel. Du siehst schon Dinge …«
»Bashier. Ich meine es ernst. Wir müssen weg aus Baden-Württemberg. Stuttgart war sicher erst der Anfang. Du willst doch auch, dass Nadja in Sicherheit aufwächst, oder?«
»Baby -«
»Nein. Nein, ich hol euch. Bleibt, wo ihr seid. Wenn ihr jetzt auf die Straßen geht, weiß ich nicht, ob sie euch nicht doch auflesen und einsperren. Ich hol euch da raus. Aber versprich mir, dass du auf mich warten wirst. Dass du nichts Dummes tust!«
»Isabelle, übertreibst du es nicht ein bisschen? Was ist vorgefallen? Etwas muss doch passiert sein, so wie du dich aufführst.«
Isabelle schluckte. Wie sollte sie ihm davon erzählen, ohne als völlig verrückt abgestempelt zu werden? Auch Liebe hatte ihre Toleranzgrenzen und bei Wahnsinn war meist eine solche Grenze erreicht. »Nun, dieser Ausbruch, dieses Virus – die Leute sind … wir haben ein neues, veganes Gericht auf die Karte genommen. Und als die das gegessen haben, ist die Hölle losgebrochen. Die sind praktisch über uns hergefallen. Haben uns angegriffen, uns gebissen. Die haben Linda und Kathi getötet. Wie Tollwütige! Schatz, wir müssen hier weg!«
»Bist du dir sicher?«
»Ich hab es doch genau gesehen! Und ich weiß, was Sonja erzählt hat. Das alles ergibt Sinn. Das ist viel zu gefährlich! Wir müssen hier wirklich weg, bevor etwas noch Schrecklicheres passiert!«
»Nun … das würde die Polizisten hier erklären. Wenn eine mutierte Form der Tollwut umgeht. Valerie und ich haben in den Aufzeichnungen aus der Pyramide von ähnlichen Ereignissen gelesen. Aber – vielleicht ist das auch nur eine neue Droge, die völlig unkontrollierte Wirkungen hat.«
Isabelle schüttelte den Kopf. Manchmal machte er es ihr echt schwer, nicht vor Frust zu schreien.
»Schatz, ich komm dich holen. Irgendwie schaffen wir es da raus. Wir müssen einfach weg. Zu unserem Schutz. Zu Nadjas Schutz. Aber lass dir nichts anmerken. Ich will nicht, dass meine Süße sich fürchtet. Und … bitte, bleibt bei den Baumanns. Ich bin so schnell wie möglich da!«
»Schatz -« Doch sie konnte die Resignation in Bashiers Stimme hören. Er würde tun, worum sie ihn gebeten hatte. Doch wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor, was geschehen würde, wenn Bashier mit Valerie darüber sprach. Sie traute der schrulligen Dozentin durchaus zu, seltsame heidnische Rituale durchzuführen oder mit ihrem Mann über alles zu sprechen. Dann würde dieser Vaihingen wirklich abriegeln lassen. Isabelle hauchte ein paar Küsse ins Telefon, bevor sie auflegte.
»Egal, was passiert. Ich beschütze euch!«, murmelte sie. Sie würde sich ihre Familie, für die sie so lange gekämpft und auf die sie so lange gewartet hatte, nicht wegnehmen lassen. Von niemandenem. Schon gar nicht seltsamen, durchgeknallten Kannibalen. Als sie endlich das Stadtschild Tübingens passierte, trat sie das Gaspedal durch und überholte die Fahrzeuge vor ihr. Entschlossen, sich von nichts aufhalten zu lassen, verlangte sie ihrem Auto alles ab – und genoss es.
Kapitel 3
Kaum war sie von der Autobahn runter Richtung Vaihingen abgebogen, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Die Straße war wie ausgestorben. Gut, dass niemand Richtung Stuttgart fuhr, war ihr natürlich klar. Abgeriegelte Städte waren nicht gerade beliebe Ziele und auch nicht sonderlich einladend. Doch dass ihr kein Auto aus Vaihingen entgegen kam, verwunderte und beunruhigte sie zugleich. Sie drosselte die Geschwindigkeit, fuhr gemächliche 80, auch wenn es in ihrem Fuß juckte, das Gaspedal durchzudrücken. Geduld war angebracht, auch wenn sie nicht wusste, wie sie die Stärke aufbringen sollte, geduldig zu bleiben. Auf Französisch bis zehn zählend fuhr sie weiter, das Herz flatterte, das Blut rauschte in ihren Ohren. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie durfte jetzt keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn sie jetzt unangenehm auffiel, konnte sie das alles kosten. Doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich. Isabelle schluckte. Es fiel ihr schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als sie um eine Kurve bog, wäre sie beinahe in die Bremsen gestiegen. Der Ortsrand von Vaihingen war noch ein gutes Stück entfernt und nicht mehr sichtbar, was seltsam war, denn eigentlich sollte sie von hier aus schon einen guten Blick auf die Häuser haben. Stattdessen starrte sie auf ein riesiges Aufgebot an Polizeiautos, Sprintern und Hubschraubern. Autos, unzählige verschiedene Modelle in allen Farben parkten vor großen, weißen Zelten, wie man sie eigentlich nur vom Wasen kannte. Isa schluckte erneut trocken. Angst kroch ihr den Nacken hinauf. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Weit vor den Zelten standen mehrere Polizeiautos, nebeneinander, stellenweise kreuz und quer. Es sah verdächtig nach einer Blockade aus. Isabelle fluchte.