Sonja

Das grelle Neonlicht und die vielen verschiedenen Gerüche der neuartigen Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer eigenwilligen Komposition, die ihr in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein, um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah auf die Gastronomie-Messe gegangen, da neue, vegane Gerichte entdecken und die steigende Nachfrage bedienen wollte. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was sie den Gästen persönlich vorgesetzt hätte.

»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand, an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da rüber gehen. Eine ganze Theke voll von veganem Fleisch. Das muss ich sehen!«

Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah zwängte sich bereits durch die Menschenmengen hindurch und schubste sie erbarmungslos zur Seite, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.

»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze. Witziger Name.«

Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich: rote Blätter mit weiß-grüner Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotenartige Auswüchse. Die Ähnlichkeit zum Bacon war vorhanden – mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie jedoch etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich – das klang einfach zu absurd, um wahr zu sein.

»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter Beweis stellen, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie sehen. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, eine dieser Pflanzen zu bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich das angesagteste Restaurant der Stadt.«

Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss es Sonja durch den Kopf, doch sie verbot sich diesen Gedanken. Jannis war zwar nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen – somit waren sie quitt. Die Küchencrew bekam ihre verdiente Ruhe und Sarah behielt ihren persönlichen Punchingball.

Jemand stieß sie an und sie taumelte. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste, dass Sarah sich durch die Menschenmassen drängelte, um ihren Willen zu bekommen.

»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, gehetzt aussehender Mann an. Dicke Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, unterstrichen die unfassbare Wut in seinem Blick. Sonja schluckte. Etwas an diesem Blick stimmte nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder wollte sie nicht hören. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort wieder auf den Stand, er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In Sonja wuchs die Neugier, etwas drängte sie dazu, herauszufinden, was dort vor sich ging. Der Stand, der Forscher – irgendetwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was? Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, da es veganes Fleisch gab, das nicht nur so aussah, sondern vermutlich auch nach Tier schmeckte, aber keins war? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre Neugier befriedigen konnte, schrillten Sarahs Worte in ihren Ohren. Die Aufregung ließ die Stimme der Freundin mehrere Oktaven höher klingen. Der Forscher, auf den ihre Freundin einredete, wirkte überfordert, er suchte herum, wirkte gehetzt und wollte anscheinend die nächstbeste Lücke im Besucherstrom nutzen, um zu verschwinden. Er hatte offenbar keine Ahnung, wie er mit dem Redefluss Sarahs umgehen sollte.

Sonja musste kichern. »Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den anderen hier sprechen.« Sie hatte beschlossen, den Messeteilnehmer zu retten und ihre Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der Forscher auf sie zu konzentrieren. Seine dunklen Augen starrten sie eindringlich an, so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, mehrere Schritte nach hinten zu machen, um von ihm wegzukommen. Doch sie musste Zeit schinden. Sie musterte den Laborkittelträger: Das blütenreine Weiß des Kittels leuchtete im Neonlicht, die dunklen Augen verrieten nicht, was er wirklich dachte. Dazu verkniffene Mundwinkel, ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte, und etwas, das grundlegend abstoßend war. Etwas störte Sonja gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war. Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.

»Interessieren Sie sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend – zu glatt. »Ominös! Köstlich!« Er lachte, zeigte dabei so viele Zähne, dass Sonja unwillkürlich schauderte. Sein Lachen war zu aufgesetzt, um sie nicht zu gruseln. »Gestatten Sie mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«

Offensichtlich versuchte er, Sarah zu entkommen und im gleiche Zug mit Bauernfängerei beginnen.

»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte an Sonjas Arm. »Wir wären der It-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die werden uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie funktioniert«, murmelte Sonja. »Die kann auch der gefährlichste Dreck sein, den wir jemals finden werden.«

»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. »Diese Pflanze ist ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er schnipste – eine Geste, die Sonja in jeder Hinsicht hasste. Ein junges Mädchen, höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig und ein seltsamer Geruch ging davon aus. Eine seltsame Faszination ging von der Pflanze aus. Obwohl sie sich auch abgestoßen fühlte, konnte sie nicht widerstehen und streckte eine Hand danach aus, was offensichtlich für den Forscher ein Zeichen war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Bacon-Pflanze sind phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um« – er hielt inne, zählte die Blätter – »an die zwei Dutzend Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich Ihnen.« Mit einem Nicken forderte er Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu welchen Ergebnissen man gekommen wäre. Dabei erwähnte der Laborkittelträger immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.

»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger – ich glaube nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber damit möchte ich mir ungern die Finger schmutzig machen.«

»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die Pflanzenbestandteile für den menschlichen Körper nicht schädlich sind. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«

»Das ist alles eine Lüge!« Sonja fuhr mit einem unterdrückten Kreischen zusammen. Der Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, hatte wohl die Beherrschung verloren.

»Das ist alles eine Lüge!», schrie er. »Genmanipulation ist alles, aber nicht gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen Ergebnisse. Niemand kann sagen, ob die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«

Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtet hatte. Der Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen – Sonja kratzte sich am Ohr. Irgendetwas sagte ihr der Name, doch sie kam nicht sofort drauf.

»Ich gehöre zu Natureen«, rief der Typ im Kittel. »Wir beschäftigen uns mit nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollen die Bevölkerung über die Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch die Bacon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als Nahrungsquelle zu dienen!«

»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden. Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden. Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«

»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat man uns stets abgewiesen? Warum uns vom Gelände gejagt? Wenn diese Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen zukommen zulassen!«

Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche – Naturgut. Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest – nur eben für Lebensmittel – und ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit in Bezug auf genmanipulierte Lebensmittel. Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Bacon-Pflanze vor ihnen abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr miese Gefühl.

»Wir wollten eben nicht, dass unsere innovative Entdeckung zum falschen Zeitpunkt publik gemacht wird«, erklärte die Assistentin, die noch immer den Blumentopf umklammert hielt. »Wir haben nicht umsonst so viel Zeit und Geld in diese Forschung gesteckt, um dann mit Plagiaten kämpfen zu müssen. Wir wollten entscheiden, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen und nicht Natureen. Immerhin stecken viele Jahre Arbeit und eine Menge Forschungsgelder hinter dieser einzigartigen Pflanze. Das wollten wir uns einfach nicht kaputtmachen lassen.« Selbst die junge Frau schien zu merken, dass ihre Erklärung mehr als nur dürftig klang und vielmehr als halbherzige Entschuldigung durchging. Sonja tat das Mädchen leid, aber sie hatte mit Sicherheit gewusst, auf was sie sich da einließ. Und nun, nun musste sie eben dafür geradestehen.

»Ich versteh die ganze Aufregung nicht«, grummelte Sarah, den Blick noch immer fest auf die Pflanze gerichtet. »Der sagt doch, das Zeug ist harmlos. Soll halt Natureen schauen, dass sie ein Exemplar bekommen und ihre bescheuerten Tests durchführen. Ich glaub dem das. Die kann doch nicht wirklich so gefährlich sein, wie sie hier dargestellt wird. Dramaqueens. Wollt halt auch euer Stück Aufmerksamkeit.«

»Und du siehst natürlich nur den Nutzen und das Wohl unserer Gäste und nicht etwa den dicken Bonus, wenn wir das Ding in den Pub geschleift bekommen«, sagte Sonja. »Ich kenn dich doch. Menschenfreundlich wie eh und je, selbstlos bis zur Aufgabe.« Sie schüttelte den Kopf. Sarah sah nur den Profit. Den Vorteil. Wenigstens das würde sich nie ändern.

»Ach, du bist blöd.« Sarah stieß die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir müssen …« Weiter kam sie nicht. Ein plötzlicher Aufruhr unterbrach sie. Neugierig reckten die beiden Freundinnen den Hals. Vier Securitymänner liefen im Stechschritt den Gang entlang, steuerten direkt auf den Stand zu. Ihre Gesichter waren grimmig und kalt. Ein klein wenig aufgeblasen, wenn sie ehrlich war. Die Schlagstöcke gezückt und mehr Muskeln, als dass sie gut ausgesehen hätten. Sonja konnte nicht anders: Sie musste einfach kichern.

»Sie kommen mit uns«, erklangen ihre Stimmen unisono und griffen nach den Armen des Natureen-Sprechers. Zwei von ihnen hielten ihn fest, die anderen beiden wurden von den Standbetreibern über das Geschehen informiert. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, führten sie ihn ab, ignorierten dabei seine Proteste. Als er sich wehrte, schlug einer der Vier ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Sonja runzelte die Stirn. Die Reaktion der Sicherheitsleute schien ihr einfach zu überzogen, um normal zu sein. Es musste etwas Großes im Gange sein. Etwas, das mit dieser Pflanze zu tun hatte. Natureen. Muss ich …

»Sonja!«

 

  • Kapitel 2

 

Sonja schloss für einen Moment die Augen. Sarahs Stimme hatte sie aus dem Konzept gebracht.

»Sonja, ich schwöre dir, wir gehen nicht eher hier weg, bis wir dieses Ding haben!«

Ist es zu spät, um mich umzudrehen und so zu tun, als würde ich dich nicht kennen? Sonja biss die Zähne zusammen, war bemüht, die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, zu schlucken.

»Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich vielmals für diese unnötige Unterbrechung. Wir werden sogleich mit der Demonstration fortfahren, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat.« Das künstliche Lächeln des Forschers verursachte bei Sonja Zahnschmerzen. »Bitte scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen oder Zweifel zu äußern. Wir werden all Ihre Einwände aufnehmen und unsere Erkenntnisse an Sie weitergeben. Treten Sie näher! Beseitigen wir die Unklarheiten.«

Na, wie das Beseitigen aussieht, haben wir ja gerade gesehen. Sonja spielte mit der großen Holzcreole in ihrem rechten Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie einer Sache nicht traute. Es war ein großer auffälliger Ohrring, schließlich besaß sie nur einen davon. Und sie trug ihn beinahe schon trotzig als Gegensatz zu den vielen Steckern im linken Ohr.

»Ich habe eine Frage«, meldete sich Sarah und Sonja verdrehte die Augen. Was jetzt kommen würde, hatte nichts, rein gar nichts mit der Forschung zu tun. Sarahs Plan stand fest und sie würde nun so lange auf den Laborkittelträger einreden, bis er ihr die Pflanze überreichte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. »Wie viele Exemplare sind denn im Umlauf? Und wo? Und nach welchen Kriterien wird entschieden?«

»Bloß keine Zeit verlieren, ne?«, stieß Sonja zwischen den Zähnen hervor. Ihr Blick wanderte über die anderen Stände, an denen neuartige Herstellungsmethoden, allerlei Pasta- und Nudelsorten angepriesen wurden, und mit einem Mal kam ihr die verlockende Vorstellung in den Sinn, wie man daraus Maultaschen herstellen könnte – auch wenn sie durchaus wusste, wie man sie machte. In diesem Moment hätte sie auch mit einem Zeugen Jehovas gesprochen, nur um dieser äußerst unangenehmen Situation entfliehen zu können. Warum konnte die Intergastra denn nicht gleichzeitig zur Tuning World stattfinden? Dann hätte Sarah sie niemals versucht, zu überreden, mitzukommen, sondern hätte sie tagelang mit ihrer Liebe zu schönen, schnellen und teuren Autos aufgezogen. Zurecht, wenn sie ehrlich war. Sie liebte den Anblick schöner Karosserien, auch wenn sie von den Besonderheiten spezieller Modelle nicht viel Ahnung hatte. Doch den Rausch der Geschwindigkeit, weiches Leder auf der Haut – sie könnte stundenlang über die Autobahn brettern, länger, als sich hier auf der Intergastra tot zu schwitzen und sich Sarahs Geschwätz anzutun. Wären sie durch all die Jahre Küchendienst nicht zwangsläufig Freundinnen geworden – wenn man es denn als Freundschaft bezeichnen wollte -, wäre sie wohl heute nicht mitgekommen. Aber der Schaden, der entstanden wäre, wenn Jannis oder einer dieser Ja-Sager mitgekommen wäre, wäre nicht auszudenken. Peter wäre ausgeflippt. Sarah hätte großkotzig eingekauft, die andere hätten es nie gewagt, ihr zu widersprechen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. So hatte sie wenigstens schlimmeres verhindern und Sarah davon abhalten können, Küchengerätschaften zu kaufen, die zwar super aussahen, aber absolut unnötig waren. Jetzt musste sie nur noch verhindern, dass Sarah diese Pflanze in die Finger bekam. Sonja seufzte. Das Leben kann echt scheiße sein, aber immerhin ist es kurz und wenn ich mir die Assistentin und diesen Forscher so anschau, könnte ich es durchaus schlimmer erwischt haben und mich intensiver mit Sarah auseinandersetzen.

»Ich wüsste nicht, warum Sie das interessieren sollte, junge Dame.« Der Forscher lachte gekünstelt, wohl um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, doch Sonja hatte durchaus bemerkt, dass Sarah zu weit gegangen war. »Aber ich kann Ihnen versichern, das hier« – er deutete auf die Pflanze – »ist das letzte Exemplar, das wir einem Gastronomiebetrieb zur Verfügung stellen können.«

»Dann sollten Sie klug handeln und mir die letzte Pflanze mitgeben.« Sarah lächelte den Laborkittelträger breit und strahlend an. »Und warum sollte ich das tun? Welchen Nutzen hätte es, Sie in die Testgruppe aufzunehmen? Ihnen das letzte Exemplar zu geben?« Der Forscher beugte sich vor. Sonja fiel auf, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste. Die ganze Vorstellung wurde ihr immer unheimlicher.

»Lass uns gehen! Sarah, komm schon. Hier stimmt was nicht. Ich trau dem Ganzen nicht. Lass es einfach gut sein.« Worte der Vernunft erreichten Sarah schon im Normalzustand selten, doch war sie auf Beutefang, so wie jetzt, war es schier unmöglich, zu ihr durchzudringen.

»Wir beide«, Sarah deutete auf Sonja, »sind Küchenchefinnen im angesagtesten Laden ganz Tübingens. Der Irish Pub. Wir sind für unsere außergewöhnliche Küche bekannt und haben immer ein volles Haus. Es wäre also nur von Vorteil, uns diese Pflanze mitzugeben, da sie so viele, richtig viele Veganer und Vegetarier erreichen.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sonja rieb sich den Nacken.

»Wir sind beliebt. Jeden Abend und jeden Mittag rennen uns die Leute die Bude ein. Wir sind DER Szene-Laden schlechthin.« Sarah lief zu Hochtouren auf. »Es hat also nicht nur den Vorteil, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, sondern auch außerhalb Stuttgarts bekannt zu werden. Win-win-Situation für uns beide.« Bei jedem Wort war sie einen Schritt näher an den Forscher getreten, bis sie ihm letzten Endes ins Gesicht starrte, ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Augen leuchteten und Sonja wusste, dass Sarah den Geldregen geradezu vor sich sah. Ein kurzer Blick auf das Gesicht des Forschers zeigte ihr, dass es ihm ähnlich ging.

Sonja seufzte. Super.

»Die Möglichkeiten, die Forschungsarbeiten auszuweiten, Tübinger Studenten miteinzubeziehen – wir haben immerhin die berühmte Morgenstelle! – stellen Sie sich doch nur mal all diese Möglichkeiten vor!« Sarah war Feuer und Flamme.

Ja, ja. Die Möglichkeiten. Weil unsere Lebensmittel-Genforschung ja auch so ausgeprägt ist!

»Ich …«

»Was denken Sie denn da noch lange darüber nach! Es bleibt Ihnen eigentlich nichts anderes übrig, als uns diese Pflanze mitzugeben. Wir sind die Zukunft Ihrer Forschung! Mit unserer Hilfe werden Sie mehr Ergebnisse bekommen, als mit allen Restaurants in Stuttgart zusammen!«

Sonja wandte den Kopf ab. Sarahs Überzeugungsargumente schlugen eine Richtung ein, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Sarah, übertreib es nicht! Bleib bei der Wahrheit – und in der Realität!«, zischte sie der Freundin ins Ohr. »Langsam, aber sicher ist es genug!«

»Du hast einfach keine Ahnung, wie man sich verkauft. Und jetzt lass mich!«

»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich bin raus! Das musst du alleine machen.«

»Das bin ich ja schon gewohnt. Wenn es hart auf hart kommt, taugt keiner von euch was. Nur wenn ich das selbst in die Hand nehm, wird das was!«

Sonja verdrehte die Augen. »Meld dich, wenn du nach Hause willst. Ich geh noch bisschen in die Stadt.«

»Jaja, schon recht.« Sarah schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Sonja warf einen letzten Blick auf die Freundin, bevor sie dem Stand den Rücken zukehrte. Und noch während sie aus der Messehalle ging, langsam, durch die Menschenströme geblockt und behindert, konnte sie hören, wie Sarah immer noch auf den Forscher einsprach und ihn zu überzeugen versuchte. Sonja schüttelte den Kopf. Sollte es Sarah gelingen, diese Bacon-Pflanze zu bekommen, würde sie die nächsten Tage, Wochen, Monate wie ein aufgeblasener Gockel herumstolzieren. Sie konnte schon jetzt die Serviceleute hören, die sich lautstark beschwerten. Und Sarah, die mit allen Mitteln versuchte, sich einen großen Vorteil an Macht und Privilegien zu sichern. Konnte sie nicht einfach wieder schwanger werden?

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