Kapstadt, 1851

Im Castle of Good Hope war es still. Gespenstisch still. Der Morgen graute und nicht einmal die Angestellten, die die Festung in Stand halten sollten, waren emsig unterwegs. Es schien, als würde das Kastell dem Dornröschenzauber verfallen sein und schlafen. Doch je tiefer man in die Festungen drang, je näher man dem Gefängnistrakt kam, desto unheimlicher wurde das Gemäuer. Schreie, schrill und laut, unmenschlich und verzerrt, drangen aus den einzelnen Zellen und hallten von den Wänden wieder. Eiserne Jungfrauen, spanische Stiefel und Streckbänke waren in einigen Kammern aufgestellt. Dunkelheit zog sich durch die Gänge, verweigerte einen Blick auf die Gefangenen in ihren Zellen, bot den Folterknechten Schutz vor Blicken und die Tarnung, ihre sadistischen Fantasien auszuleben. In einer der tiefer gelegenen Folterkammern drangen Schreie und seltsame Geräusche nach draußen auf den Korridor.
»Du kannst so viel schreien, wie du willst, kleines Mädchen! Keiner wird dich hören!« Die Stimme des Folterknechts klang rau, erregt. Die Dunkelheit, die Schatten in der Kammer schienen lebendig zu sein und mit jedem Lachen, das der Knecht ausstieß zu wachsen. Wie gierige Finger schienen sie nach den Gequälten zu greifen, ihren Schmerz aufzusaugen. Ein Feuer in der Mitte des Raumes spendete weder genug Licht noch Wärme, seine einzige Daseinsberechtigung bestand darin, Eisen zu erhitzen. Glühende Brandeisen lagen in der Glut. An der Wand hingen drei abgemagerte Gestalten an den Wänden, mit rostigen Fesseln befestigt und auf der Streckbank lag ein junger Mensch, mager, mit fahler Haut und ausgemergelt. Man konnte nicht erkennen, ob Junge oder Mädchen, so missgestaltet war sein Körper durch all die Folter. Seine Haut schillerte in allen Farben, das rechte Auge war geschwollen, die Nase mehrfach gebrochen. Der Folterknecht rieb sich die Hände, stieß immer wieder ein schrilles Lachen aus, das vor Schadenfreude und Erregung schaurig von den Wänden hallte. Eine kleine Gestalt mit einem ledernen Buch auf dem Schoss saß in einer Ecke, ignorierte die Schatten und war um Beherrschung bemüht. Der Geruch, die Schreie, der gesamte Raum verursachte ihm Übelkeit, doch seine Aufgabe war es, Dandalos zu begleiten. So lange, bis Delo auftauchte und es kam, wie es kommen musste: Ein Kampf um eine reine Seele, obwohl es ihm schwerfiel zu glauben, dass sich eine reine Seele in diesem Raum befinden sollte. Dandalos hatte dafür einfach zu leichtes Spiel gehabt, den Folterknecht, der in einer Kammer am Ende des Flurs schlief, dazuzubringen, Gefangene zu foltern, zu quälen und zu verstümmeln. Einem der Opfer hatte er Stück für Stück die Finger der rechten Hand zertrümmert, einem anderen alle Haare vom Körper gebrannt. Dem dritten Gefangenen hatte er die Haut an seinem Genital abgezogen und ihn gezwungen sie zu essen. Dandalos war es gelungen, die schlimmste, sadistischste Seite des Folterknechts hervorzuholen und ihn zu einem wahren Meister dieser Kunst zu machen. Nun musste der junge Mensch, ein Kind, herhalten. Er war sich sicher, dass dieses Kind die reine Seele war. Dieses Kind würde die Nacht nicht überleben, da war sich die kleine Gestalt sicher. Schatten hüllten ihn ein, strichen über die frisch beschriebenen Seiten. In seinen Ohren erklang Dandalos‘ Stimme.
»Nun, kleiner Schreiberling, wo bleibt der große, allmächtige Engel? Hat er aufgegeben? Wirst du nun nur noch mich begleiten? Hast du eingesehen, dass es mit mir viel spannender ist?« Die Stimme des Dämons war schmeichelnd, lockend, doch er widerstand. Dandalos versuchte immer wieder – seit Jahrhunderten – ihn auf seine Seite zu ziehen, ihn dazuzubewegen, die Gebote seines Volkes zu missachten und die Regeln zu brechen. Im Gegensatz zu Delo, der ihn weitest gehend ignorierte. »Komm schon, kleiner Schreiberling. Antworte mir! Oder der kleine Junge, der wie ein kleines Mädchen schreit, wird noch mehr leiden.«
Er wusste, egal, ob er sprechen oder schweigen würde, das Kind würde so oder so leiden. Mit zusammengebissenen Zähnen schrieb er weiter, ignorierte Dandalos und versuchte die Schreie auszublenden. Seine Hand zitterte, als er die Ereignisse aufschrieb und allein der Gedanke an Delos Abwesenheit hielten ihn davon ab, die Gebote seines Volkes zu missachten und aus der Kammer zu flüchten. Zu grausig waren die Dinge, die Dandalos dem Menschenkind antat. Und was ihn erwarten würde, wenn er sich nun einmischte und das Kind rettete, wollte er sich nicht vorstellen.

Delo schluckte. Die Holztür, vor der er stand, schien unüberwindbar zu sein. Er wusste, wer sich dahinter befand, wagte aber nicht, einfach einzutreten. Sie befand sich dahinter, er konnte sie spüren. Ihren Herzschlag hören. Julia, seine Julia.
Nun, nicht genau seine Julia, aber ihre Reinkarnation. Ihre Seele. Das Pedant zu seiner. Die Liebe seines unsterblichen Lebens. Er hob die Hand, wollte anklopfen, als Schreie ertönten. Delo zuckte zurück, brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Dann stürmte er das Zimmer.
»Julia!« Die Angst hielt sein Herz gefangen. »Julia, bist du in Ordnung? Ist dir etwas zugestoßen?« Sein Blick suchte wild das Zimmer ab. Die Balkontüren standen offen, die Vorhänge flatterten wild im Wind. »JULIA!!«
Eine junge Frau saß in einer Ecke des Zimmers, die Beine angewinkelt, die Arme um den Kopf geschlungen. Ihre Schreie wurden von einem Wimmern unterbrochen, ihr langes Haar war zerzaust und verfilzt. Büschel davon lagen um sie herum verstreut und der Wind spielte mit ihnen.
»Julia!« Delo eilte zu ihr, hilflos sah er, wie sie sich quälte. »Julia, wie kann ich dir helfen? Was kann ich tun? Wer hat dir das angetan?« Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, wagte es aber nicht. Ihre Schreie zerrissen ihm das Herz. Ihr Weinen ließ ihn erschaudern. »Julia, bitte … lass mich dir helfen.«
Die junge Frau hob den Kopf. Tränen flossen über ihre Wangen, ihre Pupillen waren geweitet, ihre Augen groß. Unendlicher Schrecken stand in ihnen. Tiefe Kratzer zogen sich über ihre Haut. Es schien, als hätte sie versucht, sich selbst zu verletzen, um – ja, um was? Was ging hier vor sich? Delo nahm ihre Hände in seine und versuchte, in ihren Geist zu dringen. Doch die wirbelnden Gedanken machten es ihm fast unmöglich. Doch die Bilder, die er aufgreifen konnte, erschütterten ihn. Ein Verlies, dunkel, düster. Blut an den Wänden und ein Kind, geschunden und am Ende seiner Kräfte. Und – Dandalos. Immer wieder Dandalos.
»Er ist es! Er lässt dich diese Bilder sehen und die Schmerzen des Kindes spüren, nicht wahr? Er ist für deinen Zustand verantwortlich!« Delo knirschte mit den Zähnen. Er wusste nicht, wie er die Verbindung zwischen den beiden brechen sollte. Aber wenn er es nicht bald tat, würde sie zerbrechen.
Kreuz, er brauchte ein Kreuz. Ein Exorzismus würde helfen, hoffte er. Delo erhob sich, sah sich suchend um. Nichts. Als ob Dandalos genau gewusst hätte, was er versuchen würde und dafür gesorgt hatte, das alles, was ihm helfen würde, aus dem Zimmer verschwand.
»Irgendwas … hier muss doch -« Eine Bewegung ließ ihn herumwirbeln. Julia war aufgesprungen. In ihrem weiten, weißen Nachtgewand, den wild flatternden Haaren und den Kratzern auf der Haut sah sie aus wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Bevor er sie aufhalten konnte, war sie an ihm vorbei gerannt, hinaus auf den Balkon.
»Julia, Julia, bitte tu das nicht!«, flehte er, kam langsam auf sie zu. Jede schnelle, hektische Bewegung würde sie dazu bringen, zu springen, das spürte er. Für einen kurzen Augenblick sahen sie sich an, er glaubte, ein Lächeln, ein sehr, sehr trauriges Lächeln, auf ihrem Gesicht zu sehen. »Bitte, ich kann dir helfen.«
»Niemand kann mir helfen.« Ihre Stimme war leise, zart wie der Wind, der sie umspielte. »Nur ich kann das beenden.«
Starr vor Angst und Schock beobachtete er, wie sie auf die Brüstung kletterte.
»Nur ich kann es beenden …« Mit ausgebreiteten Armen ließ sie sich in die Tiefe fallen.

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