Gnahahaha

Eineinhalb Jahre habe ich daran geschrieben, offiziell. Inoffiziell waren es vielleicht drei Monate. Immer wieder pausiert, immer wieder weg müssen, Arbeit, Zombies, Herzschmerz, Tod, Verzweiflung – kurzum, das Leben hat mich ziemlich hart behindert. Aber jetzt, jetzt is es fertig. Das gute Stück. Das beim Amrun Verlag erscheinen wird. Meine Dystopie. Europa als vereintes Reich. Die Großmacht mit den Guerillakriegen.
Und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen wies ankommt. Obs ankommt. Obs was taugt, obs kacke ist. Ob mich Leser mit ihren eigenen Verbalexkrementen bewerfen oder ob ich gefeiert werde. Ob es tot geschwiegen wird, ob ich eine Fortsetzung schreiben darf… so viele Fragen – und ich kann es kaum erwarten.

Kapstadt, 1851

Im Castle of Good Hope war es still. Gespenstisch still. Der Morgen graute und nicht einmal die Angestellten, die die Festung in Stand halten sollten, waren emsig unterwegs. Es schien, als würde das Kastell dem Dornröschenzauber verfallen sein und schlafen. Doch je tiefer man in die Festungen drang, je näher man dem Gefängnistrakt kam, desto unheimlicher wurde das Gemäuer. Schreie, schrill und laut, unmenschlich und verzerrt, drangen aus den einzelnen Zellen und hallten von den Wänden wieder. Eiserne Jungfrauen, spanische Stiefel und Streckbänke waren in einigen Kammern aufgestellt. Dunkelheit zog sich durch die Gänge, verweigerte einen Blick auf die Gefangenen in ihren Zellen, bot den Folterknechten Schutz vor Blicken und die Tarnung, ihre sadistischen Fantasien auszuleben. In einer der tiefer gelegenen Folterkammern drangen Schreie und seltsame Geräusche nach draußen auf den Korridor.
»Du kannst so viel schreien, wie du willst, kleines Mädchen! Keiner wird dich hören!« Die Stimme des Folterknechts klang rau, erregt. Die Dunkelheit, die Schatten in der Kammer schienen lebendig zu sein und mit jedem Lachen, das der Knecht ausstieß zu wachsen. Wie gierige Finger schienen sie nach den Gequälten zu greifen, ihren Schmerz aufzusaugen. Ein Feuer in der Mitte des Raumes spendete weder genug Licht noch Wärme, seine einzige Daseinsberechtigung bestand darin, Eisen zu erhitzen. Glühende Brandeisen lagen in der Glut. An der Wand hingen drei abgemagerte Gestalten an den Wänden, mit rostigen Fesseln befestigt und auf der Streckbank lag ein junger Mensch, mager, mit fahler Haut und ausgemergelt. Man konnte nicht erkennen, ob Junge oder Mädchen, so missgestaltet war sein Körper durch all die Folter. Seine Haut schillerte in allen Farben, das rechte Auge war geschwollen, die Nase mehrfach gebrochen. Der Folterknecht rieb sich die Hände, stieß immer wieder ein schrilles Lachen aus, das vor Schadenfreude und Erregung schaurig von den Wänden hallte. Eine kleine Gestalt mit einem ledernen Buch auf dem Schoss saß in einer Ecke, ignorierte die Schatten und war um Beherrschung bemüht. Der Geruch, die Schreie, der gesamte Raum verursachte ihm Übelkeit, doch seine Aufgabe war es, Dandalos zu begleiten. So lange, bis Delo auftauchte und es kam, wie es kommen musste: Ein Kampf um eine reine Seele, obwohl es ihm schwerfiel zu glauben, dass sich eine reine Seele in diesem Raum befinden sollte. Dandalos hatte dafür einfach zu leichtes Spiel gehabt, den Folterknecht, der in einer Kammer am Ende des Flurs schlief, dazuzubringen, Gefangene zu foltern, zu quälen und zu verstümmeln. Einem der Opfer hatte er Stück für Stück die Finger der rechten Hand zertrümmert, einem anderen alle Haare vom Körper gebrannt. Dem dritten Gefangenen hatte er die Haut an seinem Genital abgezogen und ihn gezwungen sie zu essen. Dandalos war es gelungen, die schlimmste, sadistischste Seite des Folterknechts hervorzuholen und ihn zu einem wahren Meister dieser Kunst zu machen. Nun musste der junge Mensch, ein Kind, herhalten. Er war sich sicher, dass dieses Kind die reine Seele war. Dieses Kind würde die Nacht nicht überleben, da war sich die kleine Gestalt sicher. Schatten hüllten ihn ein, strichen über die frisch beschriebenen Seiten. In seinen Ohren erklang Dandalos‘ Stimme.
»Nun, kleiner Schreiberling, wo bleibt der große, allmächtige Engel? Hat er aufgegeben? Wirst du nun nur noch mich begleiten? Hast du eingesehen, dass es mit mir viel spannender ist?« Die Stimme des Dämons war schmeichelnd, lockend, doch er widerstand. Dandalos versuchte immer wieder – seit Jahrhunderten – ihn auf seine Seite zu ziehen, ihn dazuzubewegen, die Gebote seines Volkes zu missachten und die Regeln zu brechen. Im Gegensatz zu Delo, der ihn weitest gehend ignorierte. »Komm schon, kleiner Schreiberling. Antworte mir! Oder der kleine Junge, der wie ein kleines Mädchen schreit, wird noch mehr leiden.«
Er wusste, egal, ob er sprechen oder schweigen würde, das Kind würde so oder so leiden. Mit zusammengebissenen Zähnen schrieb er weiter, ignorierte Dandalos und versuchte die Schreie auszublenden. Seine Hand zitterte, als er die Ereignisse aufschrieb und allein der Gedanke an Delos Abwesenheit hielten ihn davon ab, die Gebote seines Volkes zu missachten und aus der Kammer zu flüchten. Zu grausig waren die Dinge, die Dandalos dem Menschenkind antat. Und was ihn erwarten würde, wenn er sich nun einmischte und das Kind rettete, wollte er sich nicht vorstellen.

Delo schluckte. Die Holztür, vor der er stand, schien unüberwindbar zu sein. Er wusste, wer sich dahinter befand, wagte aber nicht, einfach einzutreten. Sie befand sich dahinter, er konnte sie spüren. Ihren Herzschlag hören. Julia, seine Julia.
Nun, nicht genau seine Julia, aber ihre Reinkarnation. Ihre Seele. Das Pedant zu seiner. Die Liebe seines unsterblichen Lebens. Er hob die Hand, wollte anklopfen, als Schreie ertönten. Delo zuckte zurück, brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Dann stürmte er das Zimmer.
»Julia!« Die Angst hielt sein Herz gefangen. »Julia, bist du in Ordnung? Ist dir etwas zugestoßen?« Sein Blick suchte wild das Zimmer ab. Die Balkontüren standen offen, die Vorhänge flatterten wild im Wind. »JULIA!!«
Eine junge Frau saß in einer Ecke des Zimmers, die Beine angewinkelt, die Arme um den Kopf geschlungen. Ihre Schreie wurden von einem Wimmern unterbrochen, ihr langes Haar war zerzaust und verfilzt. Büschel davon lagen um sie herum verstreut und der Wind spielte mit ihnen.
»Julia!« Delo eilte zu ihr, hilflos sah er, wie sie sich quälte. »Julia, wie kann ich dir helfen? Was kann ich tun? Wer hat dir das angetan?« Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, wagte es aber nicht. Ihre Schreie zerrissen ihm das Herz. Ihr Weinen ließ ihn erschaudern. »Julia, bitte … lass mich dir helfen.«
Die junge Frau hob den Kopf. Tränen flossen über ihre Wangen, ihre Pupillen waren geweitet, ihre Augen groß. Unendlicher Schrecken stand in ihnen. Tiefe Kratzer zogen sich über ihre Haut. Es schien, als hätte sie versucht, sich selbst zu verletzen, um – ja, um was? Was ging hier vor sich? Delo nahm ihre Hände in seine und versuchte, in ihren Geist zu dringen. Doch die wirbelnden Gedanken machten es ihm fast unmöglich. Doch die Bilder, die er aufgreifen konnte, erschütterten ihn. Ein Verlies, dunkel, düster. Blut an den Wänden und ein Kind, geschunden und am Ende seiner Kräfte. Und – Dandalos. Immer wieder Dandalos.
»Er ist es! Er lässt dich diese Bilder sehen und die Schmerzen des Kindes spüren, nicht wahr? Er ist für deinen Zustand verantwortlich!« Delo knirschte mit den Zähnen. Er wusste nicht, wie er die Verbindung zwischen den beiden brechen sollte. Aber wenn er es nicht bald tat, würde sie zerbrechen.
Kreuz, er brauchte ein Kreuz. Ein Exorzismus würde helfen, hoffte er. Delo erhob sich, sah sich suchend um. Nichts. Als ob Dandalos genau gewusst hätte, was er versuchen würde und dafür gesorgt hatte, das alles, was ihm helfen würde, aus dem Zimmer verschwand.
»Irgendwas … hier muss doch -« Eine Bewegung ließ ihn herumwirbeln. Julia war aufgesprungen. In ihrem weiten, weißen Nachtgewand, den wild flatternden Haaren und den Kratzern auf der Haut sah sie aus wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Bevor er sie aufhalten konnte, war sie an ihm vorbei gerannt, hinaus auf den Balkon.
»Julia, Julia, bitte tu das nicht!«, flehte er, kam langsam auf sie zu. Jede schnelle, hektische Bewegung würde sie dazu bringen, zu springen, das spürte er. Für einen kurzen Augenblick sahen sie sich an, er glaubte, ein Lächeln, ein sehr, sehr trauriges Lächeln, auf ihrem Gesicht zu sehen. »Bitte, ich kann dir helfen.«
»Niemand kann mir helfen.« Ihre Stimme war leise, zart wie der Wind, der sie umspielte. »Nur ich kann das beenden.«
Starr vor Angst und Schock beobachtete er, wie sie auf die Brüstung kletterte.
»Nur ich kann es beenden …« Mit ausgebreiteten Armen ließ sie sich in die Tiefe fallen.

Es war einmal …

»…vor langer, langer Zeit in einem nicht allzu entfernten Land, da gab es sich – BLÖDSINN!« Sie schlug das Buch zu und schleuderte es in eine Ecke. »Es war einmal am Arsch!« Wütend verschränkte sie die Arme und setzte sich auf ihr Bett. Elanthia bedachte das Märchenbuch mit einem bösen Blick. All die Geschichten waren genau das. Geschichten. Als kleines Mädchen hatte sie sie geliebt, hatte sich immer gewünscht, eines Tages selbst eines zu erleben. Ein Abenteuer. Magisch, fantastisch, weit weg von zuhause.
Zuhause. Seit ihre Eltern nicht mehr lebten und ihre Großmutter sich immer mehr an die Vergangenheit klammerte, war sie am liebsten alleine durch die Wälder gestreift. In der Natur war sie frei und musste sich nicht irrwitzigen Anforderungen stellen. Es mochte ja sein, dass ihre Mutter eine großartige Kriegerin gewesen war oder ihr Vater ein Meisterspion im Auftrag des Königs, aber sie war es nicht. Sie war einfach nur ein gewöhnliches Mädchen mit einer großen Faszination für die Natur. Nur konnte das ihre Großmutter offensichtlich nicht akzeptieren.
»Elanthia!«
Sie zuckte zusammen, als die Stimme ihrer Großmutter durch das kleine Häuschen hallte. Die alte Dame war nicht mehr in der Lage, alleine für den Unterhalt für sie beide aufzukommen, daher musste sie langsam auch helfen, das war ihr bewusst. Doch genau deswegen stritten sie sich ständig. Während ihre Großmutter sie unbedingt unter den Krieger-Novizen sehen wollte, war sie mehr an der Gemeinschaft der Jäger interessiert. Heimlich hatte sie sich auch Pfeil und Bogen geschnitzt und gebastelt – und verbotenerweise immer wieder benutzt.
»ELANTHIA!«
»Ich komm ja schon!«, schrie sie zurück. Elanthia seufzte, band die Haare zu einem Zopf zusammen, bevor sie die wenigen Stufen hinuntersprang. Zu ihrem Glück war ihre Großmutter nicht mehr in der Lage, ohne Probleme Treppen zu steigen und hatte ihr so das runde Zimmer überlassen. Das wenige, was sie an Privatsphäre hatte, war ihr heilig und dennoch würde sie sie jederzeit gegen ihre Freiheit eintauschen. Eine Freiheit, die es ihr ermöglichte, zu tun, was immer sie wollte.
»ELANTHIA!«
Sie ballte die Hände zu Fäuste. Die Frau trieb sie in den Wahnsinn!
»Großmutter, beruhige dich. Ich bin doch schon auf dem Weg, ich kann mich einfach nur nicht teleportieren.« Elanthia blieb einen Moment kurz stehen und schloss gequält die Augen. »Tut mir ja leid, dass ich nur ich bin und nicht was so besonderes wie meine Mutter es gewesen war!«
»Was hast du gesagt?«, keifte ihre Großmutter.
»Nichts!«, schrie sie zurück, obwohl sie mittlerweile längst im zweiten Raum des kleinen Häuschens stand. Das Zimmer war größer als ihres, umfasste Küche, Schlafzimmer ihrer Großmutter und Wohnzimmer in einem, und war mit  Erinnerungsstücken an ihre Mutter vollgestopft. Es glich mehr einem Schrein als einem Wohnraum. Und sie hasste es.
»Elanthia, du kannst mich doch nicht immer so warten lassen! Deine Mutter war nie so rücksichtslos. Dieses Verhalten musst du wohl von deinem Vater geerbt haben.«
Elanthia verkniff sich einen Kommentar und setzte sich an den kleinen, abgenutzten Tisch. Ihre Großmutter stellte ihr wortlos etwas zu essen hin und musterte sie kritisch. Erfahrung und besseres Wissen ließen Elanthia den Blick senken und ihren Teller anstarren. »Weißt du, ich habe alles getan, damit es dir gut geht. Fünfzehn Jahre lang habe ich alles für dich getan und du dankst es mir immer wieder mit Trotz. Ach, Kindchen, ich bin wirklich froh, dass du heute deine Ausbildung beginnst und etwas Geld nach Hause bringst. Deine Mutter war …«
»… eine außergewöhnliche Kriegerin und eine total tolle, wohl erzogene Frau, ja, ich weiß. Sie hätte einen König heiraten können und hat sich für einen Versager wie meinen Vater entschieden. Danke, ich kenne die Geschichte.« Elanthia schob den Teller zur Seite und stand auf. »Ich gehe jetzt besser, bevor ich zu spät komme. Danke, Großmutter, für das Frühstück. Bis heute Abend.«
»Du hast doch gar nichts gegessen!«, war das letzte, was sie hörte, bevor sie das kleine Häuschen verließ. Sie wusste, es war unfair ihrer Großmutter gegenüber und auch ein wenig undankbar, aber sie ertrug die Vorwürfe nicht länger. Ein Blick gen Himmel verriet ihr, dass sie noch genug Zeit hatte, um ihren Bogen und den Köcher aus dem Versteck zu holen. Sie würde sich nicht den Kriegern anschließen, wie ihre Großmutter es immer geplant hatte. Sie würde sich bei den Jägern melden.

Oder auch nicht, wenn sie sich ansah, was sich alles bei den Jägern meldete. Elanthia umklammerte ihren Bogen, ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. In mitten all der großen Männer fühlte sie sich klein, nahezu unbedeutend. Doch gleichzeitig weckte es ihren Ehrgeiz. Sie würde es ihnen allen zeigen. Sie würde sich einen Platz unter den Jägern erkämpfen und eine von ihnen werden.
Wenn man sie ließ.
»Wer bist du denn?« Elanthia hob den Kopf, musste ihren Hals recken, um demjenigen ins Gesicht zu blicken, der sie angesprochen hatte. Es war der oberste königliche Jäger. Nicht der Jägerhauptmann des Dorfes, sondern direkt aus dem Palast, wie sie an seinem Abzeichen an der Brust erkennen konnte. »Na? Hat es dir die Sprache verschlagen? Kannst du überhaupt sprechen?«
»Ja!« Es klang trotziger als beabsichtigt. »Ich bin Elanthia.« Sie würde nicht den Namen ihrer Großmutter oder ihrer Mutter nennen. Sie wollte nicht nach Hause oder zu den Kriegern geschickt werden.
»Du siehst nicht aus, als könntest du die Ausbildung bewältigen.« Der oberste Jäger musterte sie. Sie sah, wie sein Blick zu ihrem Bogen glitt und konnte sich das herausfordernde Lächeln nicht verkneifen. ja, sie wusste, man sah, dass er selbst gemacht war, aber sie wusste auch, dass man erkennen konnte, dass es gute Arbeit war. »Hast du diesen Bogen angefertigt?«, wollte er wissen. Sie nickte und streifte ihn ab. Mit zitternden Händen reichte sie ihm in. »Das sieht nach guter Arbeit aus«, murmelte er, während seine langen Finger über das Holz glitten. »Saubere Handarbeit, das muss man sagen. Funktioniert er auch?«
»Einwandfrei, Sir«, mischte sich eine ihr nur allzu bekannte Stimme ein. Der Jägerhauptmann des Dorfes war neben ihr erschienen. Elanthia verzog das Gesicht. Das würde sicher nicht gut für sie ausgehen. »Ich habe oft gesehen, wie sie damit geschossen hat – besser als jeder meiner Adepten. Sie hat nie verfehlt und was sie alles erlegt hat, war meisterlich geschossen. Sie hat Talent, auch wenn ihre Großmutter das anders sieht.«
»Sie hat also königliches Wild ohne Erlaubnis geschossen?«
Elanthia zog bei dieser Frage den Kopf ein. Das hatte sie wirklich. Allerdings hatte sie ihre Beute immer vor der Jagdhütte abgelegt, so dass sie niemals Ärger bekommen hatte oder erwischt worden war. Dachte sie zumindest.
»Ja, aber sie hat nichts davon behalten, sondern immer dafür gesorgt, dass wir es als die unsrige Beute ausgeben konnten. Der Palast hat seit Monaten von ihr geschossenes Wild genossen.« Elanthia glaubte, ihren Ohren nicht richtig zu trauen. Nahm der Jägerhauptmann sie etwa in Schutz?
»Dann sollte sie an der Prüfung teilnehmen.« Der oberste Jäger richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Du hast drei Stunden Zeit, einen Hirsch in den königlichen Wäldern zu erlegen. Schaffst du es nicht, ist es dir nicht möglich, sich den Jägern anzuschließen. Es ist  nicht wichtig, wie groß oder schwer der Hirsch ist. Wichtig ist, dass du einen erlegst. Hast du mich verstanden?«
Sie nickte.
»Einen Bogen hast du ja. Nimm dir ein paar Pfeile und lass mich sehen, ob du wirklich ein so großes Talent besitzt, dass sich Yolantos für dich eingesetzt hat.«
Yolantos. So also hieß der Jägerhautpmann. Elanthia nickte und eilte hinüber zu dem Tisch, auf dem eine große Menge Pfeile bereitlagen. Die königlichen Diener ließen sie gewähren, auch wenn sie an ihren Gesichtern erkennen konnte, dass es ihnen widerstrebte. Am liebsten hätte sie ihnen die Zunge entgegengestreckt. Doch dafür blieb ihr keine Zeit. Aufgeregt eilte sie in den Wald, nachdem sie sich mit Pfeilen versorgt hatte.

Der Wald erschien ihr mit einem Mal anders als sonst. Er wirkte bedrohlich, beinahe schon abwehrend. So als wolle er nicht, dass sich mehrere Jäger durch ihn hindurch schlichen und seine Bewohner jagten. Elanthia legte eine Hand auf den Stamm einer besonders großen Eiche und murmelte eine Entschuldigung. Sie wusste nicht, warum sie das tat, aber es fühlte sich richtig an. Und es schien, als wäre der Wald damit etwas besänftigter, denn plötzlich schien er heller und klarer zu sein.
wobei sie sich das sicher nur einbildete.
Ehrgeiz packte sie und sie beschleunigte ihre Schritte. Elanthia suchte ihre Umgebung nach Spuren ab, einem Hinweis, irgendetwas, als ein lautes Rascheln sie aufschreckte. Es war zu laut, als dass es ein Kaninchen gewesen sein könnte. Vielleicht würde sich der königliche Jäger auch mit einem Wildschwein zufrieden geben. Ohne groß darüber nachzudenken, schoss sie einen Pfeil ab, genau in die Richtung, aus der das Rascheln gekommen war. Das würde das Tier aufschrecken und vielleicht sogar in in ihre Richtung treiben.
Und tatsächlich. Das Surren des Pfeiles in der Luft schien seine Wirkung zu tun. Etwas Großes trampelte panisch auf sie zu. Mit einem Salto hechtete sie zur Seite, schoss erneut einen Pfeil genau in dem Moment ab, als der wohl hässlichste, groteskeste Hirsch durch das Gebüsch brach. Lilanes Fell mit grünen Akzenten, ein goldenes Geweih und leuchtend blauen Augen. Augen, die wie kleine Irrlichter strahlten.
»Was bist du?« Elanthia starrte das Tier mit offenem Mund an. Als es zu ihren Füßen  zusammenbrach, verschwamm die Gestalt und veränderte sich. »Beim Licht der Sonne, was habe ich getan?!«, stieß sie entsetzt aus, als sie erkannte, was oder besser wer da vor ihr lag.

Von Dingen, die man tun möchte, und Dinge, die man machen will

Also, das Bewerbungsgespräch. Es steht aus, es ist da, es rückt näher – und ich weiß absolut nicht, wie man sich darauf vorbereitet. Mein letztes Bewerbungsgespräch liegt 10 Jahre zurück und scheiterte daran, dass der Job an den Sohn eines Großkunden gings.

Und dieses Mal geht es um ein Volo. Branchenfremd, leider. Aber man nimmt, was man kriegen kann 😛

Das ist ja an sich alles kein Problem, was ein Problem ist, ist die Zeit, das Schicksal, der Zufall. Ich habe mich den Tag vorher alles genau zurecht gelegt. Wann ich losfahre, wie ich losfahre, welche Strecke, was ich anziehe, was ich sage, wie ich mich benehme (in meinem Fall meine unendlich große, dumme Klappe zu halten) und dann … dann lässt mich das männliche Wesen in meiner Wohnung nicht schlafen. Schnarcht, als würde es um sein Leben gehen.

In dieser Nacht dachte ich aktiv über Mord nach. Ehrlich.

Und dann … dann steh ich auf, eine Fliege begeht in meinem Kaffee Selbstmord, ich bin super in der Zeit (mehr oder weniger) und – STEH IM STAU.

Schon mal versucht, hypernervös jemanden anzurufen und ihm zu sagen, dass man nicht zum Bewerbungsgespräch kommt, weil die Leute zu dumm fürs Reißverschlussverfahren sind? Macht riesig Spaß. Nicht. Und das hat mir nicht geholfen, also so gar nicht. Wundert mich immer noch, dass ich keinen Unfall gebaut habe, vor lauter Angst, alles versaut zu haben.

Das Gespräch an sich war ein Spaziergang, was vermutlich an der Chefin der Redaktion lag, die völlig gechillt und entspannt auf mich gewartet hat (in Flip Flops und absolutem Chilleroutfit!). Wenn jedes Bewerbungsgespräch doch nur so einfach wäre!

Aber die eigentliche Schwierigkeit war dann doch wieder mal woanders. Ich habe zum ersten Mal seit acht Jahren einen Urlaub geplant, gebucht, ihr wisst schon. Und genau in die Zeit würde mein Einarbeiten fallen. Das Schicksal ist ein mieses Arschloch.

Allerdings muss man sagen, dass ich hier echt Glück hatte. Wir haben einen Termin gefunden, haben das alles irgendwie hinbekommen und ich bin mal echt gespannt, wie das Einarbeiten abläuft – ich bin noch nie in einer Redaktion eingearbeitet worden (gut, ich habe auch noch nie in einer Redaktion mehr gemacht als Bilder und Kolumnen geschrieben). Aber dieses Hochgefühl, mal was easypeasy erreicht zu haben – so müssen sich Glückskinder fühlen 😀 Ich glaube, ich war schon lange nicht mehr so entspannt und glücklich – trotz Stau, Autopanne und einer Hitze in einem Auto ohne Klimaanlage, die mich fast geschmort hätte.

Sie sagen ja. Sie sagen nein. Sie sagen ja. Sie sagen nein…

Es ist wie damals, als man dieses arme Gänseblümchen zerpflückt hat. Dieses hoffnungsvolle Warten, die Aufregung, das Herzklopfen – und die bittere Enttäuschung am Ende. 

Man hat sich also aufgerafft, Bewerbungen geschrieben, sie abgeschickt. Jetzt heisst es warten. Warten ist ja so die Pest des 21. Jahrhunderts. Wir sind es gewohnt, dass alles schnell, sofort und nahezu instant funktioniert. 

Bei Bewerbungen wäre das manchmal echt schön. Ich habe eine Woche auf die Antwort eines Volos gewartet und zwei wochen auf die Antwort eines Reisebüros. Der Rest hat sich nicht dazu bequemt, mir auch nur eine Eingangsbestätigung zu schicken! Nicht Mal eine 08/15-Standardantwort oder einen ASCII- Mittelfinger. 

Naja, und dann… Wisst ihr was nach den Interessenbekundigungen kommt? 

Das Bewerbungsgespräch. Bei meiner Telefonphobie bin ich ja echt froh, dass das alles schön persönlich abläuft. Zumindest beim Volo war das der Fall. Das Reisebüro hat mir erst Mal eine Hausaufgabe gestellt. 

Ich mein, Okay, ist ja nicht so, dass ich schon zig Probetexte schreiben musste!!! Über Themen, die halt… So spannend sind wie die Größenwahnfantasie des Thekenkönigs. 

Aber was macht man nicht alles, um einen Job zu bekommen? Richtig. Recht wenig :p   

Rio de Janeiro, 1967

Eine kleine Gestalt wanderte durch die Schatten, versteckt und vor allen Blicken geschützt. Sie folgte einer Person, einer bestimmten Person. In ihren Händen hielt sie ein Buch umklammert, dick und alt. Der Ledereinband sah schon reichlich abgenutzt aus. Keiner der beiden hatte einen Blick für die Umgebung übrig. Das Viertel Vila Isabel sprühte vor Leben, vor Lust, vor Freude. Es war die Zeit des Jazz Bossa Nova und die Menschen feierten – überall. Auf den Straßen, in den Häusern, auf den Dächern der Stadt. Rio de Janeiro glich einer großen, niemals enden wollenden Party. Die kleine Gestalt in den Schatten verzog das Gesicht. Bis vor einigen wenigen Augenblicken hatte sie auf der Christusstatue auf dem Corcovado gesessen, dem Treiben der Stadt zugesehen und war völlig fasziniert davon gewesen, wie einzigartig und doch gleich alle Menschen waren. Und nun – nun folgte er wieder einmal einem der beiden Gegenspieler, an die er gebunden war. Gebunden, bis beide starben. Doch den Erzählungen der anderen nach dauerte das meist lang, Jahrhunderte lang. Dämonen und Engel starben eben nicht einfach so, sie waren zäh.
Die große Gestalt vor ihm bewegte sich schneller. Er hatte mühe ihr durch die Schatten zu folgen und musste auf die Fähigkeit seines Volkes zurückgreifen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Er musste durch die Schatten springen. Am liebsten hätte er laut geflucht, aber selbst das war ihm verboten. Er durfte nur folgen, zuschauen und aufschreiben. Er durfte nicht eingreifen, er durfte nicht Partei ergreifen und er durfte die Menschen nicht schützen. Die Gestalt, der er folgte, eilte an den Favelas vorbei, ließ die Luxuswohnungen hinter sich und eilte direkt an den Strand Ipanemas. Das militärische Fort und die Dois Irmãos ignorierten beide. Die große Gestalt hielt direkt auf einen großen Schatten zu, der am Strand stand und aufs Meer hinaus sah. Er suchte sich schnell einen Platz, von dem aus er alles sehen und genau aufschreiben konnte. Er wusste, was nun kam. Ein kleines Wortgeplänkel und ein recht blutiger Kampf. Es war immer dasselbe.
»Delo, du hast es also doch hergeschafft! Ich bin beeindruckt! Dieses Mal hast du dir ja gar nicht so viel Zeit gelassen wie sonst. Du kommst sogar noch rechtzeitig, um zu sehen, wie all das Leben aus dieser jämmerlichen Kreatur fließt.« Der große Schatten, der aufs Meer geblickt hatte, drehte sich um, während er sprach. Augen glühten rot und bedrohlich in seinem Gesicht, das man nicht deutlich erkennen konnte. Doch er wusste, wer es war. Dandalos, der Dämon an den er gebunden war, Gegenspieler des Engels Delo. Ewig im Kampf um Seelen für ihre beiden Herren und er auf ewig dazu verdammt ihnen zu folgen, bis sie sich schlussendlich beide gegenseitig umbrachten.
»Delo, sieh sie dir an! Erinnert dich das Mädchen nicht an Julia, Cäsars unglückliche Tochter, die du ebenfalls nicht retten konntest? Diese reine Haut – wie feinstes Porzellan und so weich wie Seide. Zu schade, dass sie dieser Welt nicht erhalten bleibt und ihre Seele mir gehört!«
»Dandalos, noch hast du nicht gewonnen! Ich kann sie immer noch retten und das weißt du!« Delo, der mit großen Schritten ins Wasser geeilt war, schien gewillt zu sein, das Leben des jungen Mädchens zu retten. Er breitete seine Flügel aus, spannte sie schützend vor den Körper des Mädchens, während er sie aus dem Wasser hob. Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie Blut und Meerwasser von ihrer Haut perlten und langsam mit den Wellen verschmolz. Delo hatte recht gehabt. Ihre Haut war makellos und rein wie Porzellan, doch sie schien mehr tot denn lebendig zu sein. Adern schimmerten bläulich unter ihrer Haut, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, ihre Lippen waren bleich und farblos. Sie hatte wirklich nicht mehr lange auf dieser Erde. Delo musste sich beeilen, wenn er sie retten wollte, doch er war dazu verdammt, nichts zu sagen und nicht einzugreifen. Delo musste von selbst auf die richtige Lösung kommen, obwohl er sie durch all die Jahre und all das Gesehene schon kannte. Wie aufs Stichwort schien Delo zu glühen. Ein warmes, goldenes Schimmern ging von seinen Flügeln aus, während er sacht das Mädchen an den Strand trug und dabei heilte. Auf diesen Moment schien Dandalos nur gewartet zu haben. Delo, Kriegerengel des Michaels, war kein Heiler und der Heilungsprozess forderte seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft. In diesen Momenten war er angreifbarer denn je und sie alle drei wussten es. Die kleine Gestalt im Schatten schüttelte den Kopf. Jedes Mal denselben Fehler. Jedes Mal. Es war zum verrückt werden.
Dandalos‘ Augen glühten stärker, Schatten waberten um ihn herum, griffen nach Delos goldenen Flügeln, dem goldenen Schimmern, das von ihm ausging. Sie schlichen sich über ihn, wanderten mit seinen Heilkräften zu dem jungen Mädchen in seinen Armen.
Er schüttelte den Kopf. Delo lernte es nie. Dandalos nutze den Heilungsprozess immer, um mit seinen Schatten die Opfer zu vergiften – und meist waren sie stärker als das Licht, das von Delo ausging. Er brauchte eigentlich nicht weiter zusehen, es war sowieso schon klar, was passieren würde. Die junge Frau würde sterben, es kam zum Kampf, keiner der beiden würde sterben und einer von ihnen – aller Wahrscheinlichkeit nach Dandalos – würde verschwinden und sich ein neues Opfer suchen. Ein Gähnen unterdrückend ließ er dennoch den Stift über das Papier gleiten. Aufgabe war nun mal Aufgabe.
Dandalos‘ Schatten schienen es dieses Mal schwerer zu haben als sonst. Hatte er sich etwa das falsche Opfer ausgesucht? Die kleine Gestalt hob eine Augenbraue und runzelte die Stirn. Konnte es sein, dass der Dämon sich ein getauftes Opfer erwählt hatte? Ein gläubiges Opfer? Mit Absicht? Um das Ganze spannender zu gestalten? Das wäre ja mal etwas Neues. Er beobachtete, wie die Schatten durch die Adern über den Körper des Mädchens wanderten. Sie verlor noch mehr an Farbe, wurde fahler und bleicher. Glich immer mehr dem Tod persönlich denn einer Lebenden. Delo schien davon nichts mitzubekommen, er war viel zu konzentriert auf den Heilungsprozess. In wenigen Augenblicken würden die Schatten das Herz und somit ihr Ziel erreicht haben. Delos Anstrengung würde völlig umsonst gewesen sein. Dann würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als um die Seele zu kämpfen, wenn er schon das Gefecht um ihr Leben verloren hatte.
»Kleiner, naiver Engel. So jung, so hoffnungsvoll. Hast du nach all den Jahren immer noch nicht begriffen, wie meine Kraft wirkt?« Dandalos kicherte. Seine Schatten hatten das Herz des Mädchens ergriffen, das Leben aus ihr herausgepresst. Tot lag sie in den Armen Delos, ohne begriffen zu haben, was mit ihr geschah. Dandalos war ein Meister, wenn es darum ging, leise und völlig überraschend zu töten. Die meisten seiner Opfer fühlten nichts – ihm ging es um die Qualen ihrer verzweifelten himmlischen Retter, wenn sie merkten, dass alles umsonst gewesen war. Sein Stift flog förmlich über das Papier, er musste sich anstrengen, um mitzukommen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Delo keuchte. Er fiel auf die Knie, das Mädchen immer noch im Arm. Eine einzelne, goldene Träne rann über seine Wange, als er begriff, dass er verloren hatte. Schatten huschten an ihm vorbei, etwas Weißes, Leuchtendes in ihrer Mitte. Ihre Seele. Das goldene Schimmern wandelte sich zu einem Leuchten, als er den Leichnam sacht in den Sand legte und sich erhob. Zwei lange Einhandschwerter mit glühenden Runen erschienen in seinen Händen. Seine goldenen Augen leuchteten unheilvoll. Sein weißer Anzug war verschwunden und stattdessen kleidete ihn eine goldene Rüstung. Delo würde kämpfen. Er würde um die Seele des Mädchens kämpfen. Dandalos, nach wie vor in der Dunkelheit verborgen, so dass nur seine rotglühenden Augen zu sehen waren, schnippte nachlässig und die Seele des Mädchens wandelte sich in einen leuchtenden Kristall. Er warf ihn ihm zu. Direkt auf die frisch geschriebenen Worte. Die kleine Gestalt seufzte, hob das Buch an, so dass der Seelenkristall in den Sand fiel. Er durfte ihn nicht hüten. Er durfte ihn nicht anfassen. Er durfte nichts tun außer Schreiben, Beobachten, Folgen.
»Ah, unser kleiner Freund will wieder einmal nicht mitspielen. Wie bedauerlich!«, schnurrte Dandalos. Die Schatten um ihn herum verdichteten sich. Schienen mit ihm zu verschmelzen. Delo hob seine beiden Schwerter und stürmte auf den Dämon zu. Der erste Hieb verschwand in tiefster Dunkelheit. Schatten griffen nach den Flügeln des Engels, zogen, zerrten. Delo ignorierte sie. Er hieb verbissen nach Dandalos, der in der Dunkelheit, die unheilvoll über den Sand wabberte, nicht mehr zu erkennen war. Die Schatten griffen wie Krallen nach dem Engel, drängten sich gegen das goldene Leuchten, zuckten immer wieder zurück, sobald sie es berührten. Dennoch schienen sie nicht aufgeben zu wollen. Sie wollten den Engel verletzen, wollten ihn zu Boden ringen. Delo verstärkte seine leuchtende Aura. Der Sand zu seinen Füßen glühte und schmolz zu Glas. Bei jedem Schritt, bei jedem Hieb wirbelten Sandkörner und kleine Glassplitter auf, die glitzernd durch die Luft stoben. Die kleine Gestalt seufzte. Zu oft hatte er das schon gesehen.
Blut spritzte auf seine Seiten. Verärgert tupfte er die Spritzer mit dem Finger trocken, um das Schlimmste zu verhindern. Das nächste Mal würde er sich wieder einen Platz außerhalb ihrer Reichweite suchen müssen und hoffen, dass er trotz der speziellen Umstände nichts verpasste. Den anderen seines Volkes war es gleichgültig, wie ihre Texte aussahen, ihm hingegen ging es um Perfektion. Das Einzige, das er selbst beeinflussen konnte. Plötzlich stutzte er. Blut? Er hob den Kopf. Delo hatte Dandalos getroffen. Der Sand war blutgetränkt, eines der Schwerter glitzerte rötlich. Die Schatten, die nach Delo griffen, schienen nun aggressiver vorzugehen. Mit einer Art rasender Wut schnitten sie die goldenen Flügel auf, wetzen ihre nicht greifbaren und dennoch materialisierten Krallen an der glänzenden Rüstung des Engels. Zogen an seinen Haaren, fuhren mit tiefen Kratzern über seine Haut. Delo schien sich nicht darum zu kümmern. Angetrieben von dem Triumph, den Dämon erwischt zu haben, hieb er kraftvoll und unbeirrt auf die wabbernde Dunkelheit ein, in deren Mitte immer wieder unheilvoll leuchtende rote Augen erschienen. Blut spritze immer wieder aus den wabbernden Schatten, in die sich Dandalos gehüllt hatte, auf den Sand, während kleine Rinnsäle des Lebenssaftes über Delos Haut wanderten. Am Horizont ging langsam die Sonne auf, tauschte das Schauspiel in ein makaberes Licht und verhalf Delo unabsichtlich zu einem entscheidenden Vorteil. Dem Schutz der Dunkelheit beraubt, war Dandalos angreifbarer, seine Schattengestalt deutlicher auszumachen. Auf dem Gesicht des Engels erschien ein breites, triumphales Grinsen. Er setzte zu einem entschiedenen Hieb an, um dem Dämon den Kopf abzuschlagen, als dieser mit einem tiefen Knurren und den Worten »Es ist noch nicht vorbei!« mit dem Wind verschwand. Delos Hieb ging ins Leere.
»Immerhin gehört mir ihre Seele.« Mit Bedauern ließ Delo seine Schwerter verschwinden und atmete tief durch. Er faltete seine Flügel auf seinem Rücken, leuchtete ein letztes Mal strahlend hell, bevor er wieder in seinem tadellos sitzenden schwarzen Anzug gekleidet war. Mit wenigen Schritten war er am Leichnam des Mädchens angekommen, berührte sie sacht. »Deine Seele ist in Sicherheit. Nichts wird dir mehr schaden können.« Schon bald würden sie den toten Körper finden, ohne Wunden, ohne Kampfspuren. Sie würden einen Herzstillstand vermuten und wie immer ahnungslos bleiben. Wie schon all die Jahrhunderte zuvor würden die Menschen nicht ahnen, welch perfides Spiel um ihre unsterblichen Seelen getrieben wurde. Sein Blick begegnete dem des Engels, als dieser zu ihm trat und den Seelenkristall aufhob.
»Wir sehen uns sicher bald wieder, kleiner Schreiberling«, murmelte Delo und neigte den Kopf zum Abschied, bevor er in einer Art Stichflamme verschwand. Die kleine Gestalt verzog das Gesicht. Schreiberling – wie er diese Bezeichnung hasste. Er war ein Chronist! Er war ein Chronist aus dem einzigen Volk, das fähig war, Dämonen und Engeln zu widerstehen und sich nicht von ihrer Macht blenden zu lassen. Chronist und kein Schreiberling! Mit einem Grunzen schlug er das Buch zu und schloss die Augen. Er spürte, wie ihn etwas rief. Ein erneutes Ereignis. Sie gönnten ihm und sich selbst nicht einen einzigen Augenblick Ruhe. Seufzend zog er sich weiter in die Schatten zurück und sprang mit ihrer Hilfe zu dem Ort der nächsten Begegnung.

Isabelle

»Du hast gesagt, in Stuttgart hat es angefangen?«, fragte Isabelle. Sonja nickte. Alex war ihr über den Rückspiegel hinweg einen seltsamen Blick zu. Isabelle biss sich auf die Unterlippe. Ihr Mann wollte heute nach Vaihingen. Vielleicht hatte Nadja ihn aber doch dazu überreden können, mit ihr im botanischen Garten zu picknicken. Zumindest hoffe Isabelle, nach allem, was im Pub geschehen war, dass ihre kleine Tochter erfolgreich gewesen war. Falls nicht, würde ihr keine andere Wahl bleiben, als … »Dann sollten wir nach Stuttgart gehen. Irgendwie. Und die Wahrheit ans Licht bringen.« Und mir die Möglichkeit geben, nach meiner Familie zu schauen.

»Du meinst, wir brechen in das Labor ein und besorgen die Forschungsunterlagen?« Sonja klang skeptisch und Isabelle konnte mühelos heraushören, dass ihr dieser Gedanke nicht gefiel. »Eigentlich keine schlechte Idee. Aber wie sollen wir da reinkommen? Wie sollen wir das Labor überhaupt finden?«

Isabelle unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Es war nur natürlich, dass Sonja ihren Vorschlag hinterfragte, sie selbst würde ja nicht anders handeln, aber sie hatte jetzt bei Weitem andere Sorgen, als gegen Sonjas Skepsis anzukämpfen. Doch sie würde anders nicht weiterkommen. Fieberhaft überlegte sie sich eine Antwort, als sie unerwartete Hilfe bekam.

»Das sollte kein Problem sein«, bemerkte Jennie zu Isas Erstaunen. »Wenn du den Namen hast, dann wird man das sicher finden. Das Internet vergisst nichts, und wenn der da irgendwie auf diese Pflanze stolz ist, wird man da sicher was finden.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht so einfach ist«, meinte Isa und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, kaum hatte sie den Mund geschlossen. Klasse gemacht, Isabelle. Willst du nun zu deinem Mann oder nicht?

»Sei kein Spielverderber, Isa. Sonja, wie hieß der Kerl?« Isa gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen, als sie sah, wie Jennie ihr Smartphone in der Hand hielt. Keine Spur von Schock oder Entsetzen in ihrem Gesicht, nein, die Freundin und Kollegin wirkte nahezu rational, emotionslos. Nicht einmal Linda würde so ruhig bleiben, da war sich Isa sicher. Ob sie wollte oder nicht, sie war beeindruckt.

»Baumann.« Kurz und knapp – typisch Sonja. Während Jennie tippte, konnte Isabelle nicht widerstehen. Sie spähte über deren Schulter und zählte innerlich bis zehn, während das Internet lud und lud.

»Na also. Also, er befindet sich im Laboratorium für Lebensmittelforschung und Nahrungstechnologie. Das sollte wohl nicht schwer zu finden sein. Das Gebäude ist direkt am Schloss. Vor ein paar Jahren frisch erbaut.«

Isa nickte, langsam. Sie wusste nicht, wie sie jetzt reagieren sollte, ohne ihre wahren Absichten zu verraten.

»Selbst wenn er die Unterlagen zu der Bacon-Pflanze nicht da hat, werden wir dort Hinweise darauf finden, wo sich das eigentliche Labor befindet.« Jennie klang erstaunlich zuversichtlich, fand Isa. Angesichts der Lage vielleicht etwas zu zuversichtlich, aber jeder wie er mochte. Als Alex abbog, wusste Isa, sie musste handeln. Musste sich überzeugen, ob Mann und Kind zu Hause waren.

Alex, du musst hier andersrum abbiegen. Ich muss nach Hause!« Sie beugte sich vor, ihr Gesicht auf Höhe seines Kopfes. »Ich wohn da vorne. Wir müssen meinen Mann und meine Tochter mitnehmen.« Oder nachschauen, ob sie Zuhause sind. Wenn ja, dann muss ich nicht mit nach Stuttgart. Wenn nein, naja, dann hab ich wohl keine andere Wahl.

»Dafür haben wir keine Zeit. Schreib ihnen. Schreib ihnen und sag ihnen, dass sie aus der Stadt fliehen sollen.«

»Aber zu mir können wir doch, oder? Ich will wenigstens noch ein, zwei Sachen mitnehmen. Glücksbringer, wenn du so magst.« Jennie drängte sich neben Isa, stieß sie etwas zur Seite. Isa unterdrückte ein Fauchen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Leute, so sehr ich euch auch verstehe, aber dafür bleibt keine Zeit. Das geht nicht. Wenn die Lage so bleibt, können wir ja wieder zurückkehren und alles holen. Aber Jennies Plan ist gut. Wir müssen nach Stuttgart. Wir müssen die Öffentlichkeit über alles informieren. Und ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird.«

Isa wusste, dass Sonja recht hatte. Ihr war auch klar, dass Sonja auf ihre Hilfe baute. Stuttgart war abgeriegelt – nach den Ereignissen im Pub fiel ihr das nicht mehr so schwer zu glauben. Sie verstand auch dieses Hin- und Herfahren, auch wenn sie es für absolut schwachsinnig hielt. Da hätte es sicher auch einfachere Wege gegeben, die von Sonja gebunkerten Sachen mitzunehmen. Nur Esther – das war für Isa der einzig wirklich nachvollziehbare Grund für das ganze Chaos. Es war viel zeitaufwendiger, erst zu Sonja, dann zum Pub zu fahren, doch sie hielt den Mund. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten oder zu diskutieren. Jetzt musste sie schnell schalten. Jetzt musste sie sich ganz schnell etwas einfallen lassen. Isa ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Alex würde nicht zu ihr fahren, das war sicher, doch sie konnte auch nicht bei ihnen bleiben. Ja, natürlich war sie auch der Meinung, die Wahrheit müsse an die Öffentlichkeit geraten, aber sie wollte erst einmal ihre Familie in Sicherheit wissen. Danach war sie bereit, jeder Zeitung, jedem Reporter Rede und Antwort zu stehen.

Die Ampel wechselte von Grün auf Rot, Alex bremste und hielt pflichtbewusst an. Isa schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, schluckte – und sprang aus dem Auto. Es war vielleicht dumm. Es war vielleicht unverantwortlich. Aber es war die einzige Möglichkeit, die Isa sah, um zu ihrer Familie zu gelangen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, ignorierte sie das schlechte Gewissen, das ungute Gefühl, das sich in ihr ausbreitete und rannte. Sie wich den hupenden Autos aus, rannte über die vierspurige Straße. Jennie schien ihrem Beispiel zu folgen, wie ein weiteres Knallen einer Tür zeigte. Sie taten also alle genau das, was man in solchen Situationen nicht tun sollte: Sich trennen und einzeln durchschlagen. Aber Isabelle konnte nicht anders. Ihre Familie war ihr nun einmal wichtiger.

Sie schlüpfte durch die Studentengruppen hindurch, wich flink einzelnen Menschen aus. So friedlich, so ruhig – keiner von ihnen ahnte von der Gefahr, die ihnen drohte. Missbilligende Blicke, verärgerte Ausrufe – Isabelle scherte sich nicht darum, was man von ihr hielt. Sie rannte einfach weiter. Musste weiterrennen. Stehen bleiben würde zu viel Zeit kosten. Wertvolle Zeit, die ihre beiden Liebsten vielleicht nicht mehr hätten.

»Ey! Pass doch auf!«

Isa strauchelte. Für einen kurzen Augenblick war sie abgelenkt gewesen. Hatte einen Skaterboarder übersehen. Sie stolperte einige Schritte, brauchte einen Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, sich wieder zu fangen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung lief sie weiter. Kümmerte sich nicht darum, um ob er sich verletzt hatte. Ob ihm was passiert war. Die ein, zwei Kratzer würden sein kleinstes Problem sein, wenn die Kacke richtig anfing zu dampfen. Autos hupten, als sie erneut über die Straße hetzte. Die Einbahnstraßen und nicht sonderlich klug geschalteten Ampeln, die zu oft von Rot auf Grün wechselten, erschwerten ihr den Heimweg. Doch schlussendlich hatte sie das Hochhaus erreicht. Schweiß lief ihr in Strömen über Stirn und Rücken. Die kühle Luft im Treppenhaus ließ sie frösteln, obwohl es für deutsche Verhältnisse relativ gutes Wetter war und die Temperatur hoch. Isa sprang die Stufen hinauf, mehrere auf einmal, wusste, viel Zeit blieb ihr nicht, wenn die beiden wirklich nicht in Tübingen waren. Ihre Hand zitterte, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, das Blut rauschte in den Ohren – Isabelle war sich nicht sicher, ob sie nicht gleich ohnmächtig werden würde. Als die Tür endlich aufsprang, war das Erste, was ihr auffiel, das blinkende, rote Licht des Anrufbeantworters. Auch wenn es altmodisch war, Bashir hatte sich durchgesetzt. Er mochte Anrufbeantworter und hinterließ ihr immer wieder kleine, süße Nachrichten, doch etwas sagte Isa, dass diese Nachricht nicht so süß sein würde, wie sonst. Ihr Atem ging stoßweise, sie biss sich auf die Unterlippe, als sie den Knopf drückte und die Nachricht abhörte.

»Schatz, Nadja und ich sind in Vaihingen. Meine alte Professorin hat uns zum Kaffee eingeladen, du weißt doch, wie sehr ich Valerie Baumann schätze. Aber wir sind zurück, bevor du Feierabend hast – und dann haben wir eine Überraschung für dich. Wir lieben dich, Superfrau!«

Isa lächelte, auch wenn ihr nicht wirklich danach war. Ja, die Nachricht war nicht wie sonst voll süßer Liebesbekundungen, sondern mehr informativ, aber leider nicht so, wie sie gehofft hatte. Die beiden waren also mitten in der Gefahrenzone. Das war definitiv nichts, was sie erfreute, aber sie wusste auch, dass Bashier, ihr geliebter Ehemann, seiner alten Ägyptisch-Dozentin nichts abschlagen konnte. Nicht, nachdem sie ihn voreinigen Jahren in Ägypten an der Forschung an einer alten Pyramide beteiligt hatte und sie dort einen sagenhaften Fund alter Schriften gestoßen waren. Seitdem vergötterte Bashier Valerie Baumann Bashier. In schwachen Momenten wurde sie manchmal eiferrsüchtig, doch dann hinterließ ihr Bashier wieder eine süße, liebe Nachricht und alles war vergessen. Doch nun, nun war er mit Nada bei Valerie. In Vaihingen. Unmittelbar an der Sperrzone. Isabelle schluckte, atmete tief durch. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Sie wählte die Kurzwahltaste ihres Handys, unter der sie Bashiers Nummer eingespeichert hatte, und wartete. Freizeichen um Freizeichen, doch ihr Mann ging nicht ran.

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Höflichkeit!«, fauchte sie und stecke ihr Handy wieder ein. Gut, dann muss ich wohl einfach auf gut Glück losfahren und schauen, dass ich dich erreich, dachte sie, griff nach ihrem Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Erneut stürmte sie aus dem Haus und kaum hatte sie ihr Auto erreicht, wählte sie erneut seine Nummer, das Handy mit fahrigen Bewegungen in die Freisprechhalterung klemmend.

 

 


Kapitel 2

 

Das Freizeichen nervte sie. Dieser monotone Ton zerrte an ihr, während sie im Schneckentempo aus der Straße fuhr. Wieder einmal bewies Tübingen, dass die stadteigene Straßenführung nichts für Ungeduldige war oder Menschen, die es eilig hatten. Isa knirschte mit den Zähnen, krallte sich am Lenkrad fest, während sie versuchte, dem Drang zu widerstehen, die Fahrer vor ihr anzuschreien und mit einem regelrechten Hupkonzert vor sich herzutreiben. Erfahrungsgemäß ging es dann zwar auch nicht schneller, aber sie konnte zumindest ihrem Unmut freien Lauf lassen. Das Freizeichen tönte laut durch ihr Auto und sie zuckte zusammen. Isabelle seufzte, drehte am Radioknopf. Suchte einen Sender, der dieses nervige Tuten ablösen und ihre Nerven nicht weiter strapazieren würde. Als die Rolling Stones durch den Innenraum ihres Peugot 306 dröhnten, entspannte sie sich etwas. Sie legte auf und beschloss, erst dann wieder zu wählen, wenn sie Tübingen hinter sich gelassen hatte. Zwanzig Minuten müssten reichen, damit Bashier eine Ausrede finden und rangehen konnte. Das Warten trieb sie jedenfalls in den Wahnsinn. Die Rolling Stones schmetterten gerade ihren »Doom and Gloom«-Song, als sie einer schnitt und ohne zu blinken von der äußersten rechten Spur einfach vor sie fuhr und Isabelle nichts anderes übrig blieb, als eine Vollbremsung hinzulegen.

»Du Mongo!« Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, das Hupen der Fahrer hinter ihr brachte sie allerdings wieder auf Spur. Fauchend gab sie wieder Gas, schaltete und fuhr weiter – immer noch langsam.

 

Sie streckte gerade den Finger aus, um noch einmal die Nummer ihres Mannes zu wählen, als die leise, basslastige Musik zu einem sehr lauten Getöse wurde, das die Nachrichten ankündigte. Isa fluchte. Sie vergaß immer diese automatische Umschaltfunktion auszumachen und erschrak jedes Mal, wenn die Traffic-Funktion griff und die Musik von sehr lauten Nachrichtensprechern mit betont lockeren Sprüchen abgelöst wurde.

»So eben haben wir erfahren, dass es in Tübingen zu Aufständen gekommen sein soll. Natürlich waren wir von SWR3 vor Ort und haben nachgefragt. Wir haben Katja, die direkt am Pub steht, in der Leitung. Katja, was ist da passiert?« Die Stimme des jungen Mannes, dessen Namen sie sich einfach nie merken konnte, klang überaus fröhlich und aufgedreht. »Wie ist denn die Lage in Tübingen?«

»Nun, Kai, hier sieht es echt abenteuerlich aus. Eingeschlagene Fenster, zerbrochene Stühle – Blut. Krass. Ich stehe hier neben dem Chef des Restaurants, der genauso schockiert ist wie ich. Herr Wolf, können Sie mir sagen, was hier geschehen ist?«

Isa hob eine Augenbraue. Das Ganze war so surreal, dass jeder Künstler neidisch werden würde. Zumindest die zahlreichen verkorksten Hipster-Autoren im Brechtbau.

»Das war eindeutig ein Aufmarsch, ein Aufstand. Das waren eindeutig die Leute von Natureen, die mal wieder gegen unsere Burger-Karte gehetzt haben. Die meckern alle paar Wochen und drohen mit einem Aufmarsch, einer Demo. Die haben schon öfters randaliert oder Scheiben eingeworfen.«

Isabelle runzelte die Stirn, als die tiefe Stimme ihres Chefs aus den Boxen drang. »Chefchen, das ist völliger -«

»Die waren das eindeutig. Haben unsere Gäste angegriffen. Meine Angestellten haben sich versteckt, sind geflüchtet. War alles ziemlich gewalttätig.«

»Wie erklären Sie sich das, dass alles voller Blut ist und keine Verletzten gefunden wurden? Dass Gerüchte rumgehen, dass man zahlreiche Leichen herausgetragen hat?«

Gut gesagt, kleine Moderatorin. Isabelle drehte das Radio lauter.

»Das ist nur aufgebauscht. Natureen ist gefährlich, aber niemand ist zu Schaden gekommen. Vor allem droht keinerlei Gefahr, bei uns zu essen. Wir werden natürlich alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann. Aber Natureen muss gestoppt werden!«

Ach, Chefchen. Wer hat dir dieses Märchen erzählt?

»Es wird ja vermutet«, konnte sie die Moderatorin, Katja, sagen hören, »dass der Aufstand was mit der Abriegelung Stuttgarts zu tun hat. Was sagen Sie denn dazu?«

»Ich bin nur der Besitzer des Pubs. Ich habe von einer Abriegelung nur aus der Zeitung gelesen – warum sollte es etwas mit diesen Lebensmittel-Terroristen zu tun haben?«

Isabelle schmunzelte. Ja, da hatte er recht. Der Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen war mehr als dürftig. Wer auch immer diesen Stuss verzapft hatte, wusste genau, was er tat. Nun würden alle Natureen noch skeptischer betrachten, als sie es ohnehin schon taten. Isa fand, sie hatte genug gehört. Als die Moderatorin wieder eine Vermutung äußerte, wechselte sie zurück auf ihre Rolling Stones und wählte endlich erneut die Nummer ihres Mannes. Das erneute Tuten des Freizeichens ließ sie mit den Zähnen knirschen. Gerade, als sie wieder aufgeben wollte, knackte es in der Leitung und Bashiers Stimme war zu hören.

»Baby, was ist los?«

»Schatz, seid ihr noch in Vaihingen? Ist alles in Ordnung bei euch?« Isabelle verschwendete keine Zeit mit Smalltalk. Nicht jetzt. Nicht heute. »Stuttgart ist abgeriegelt – haben sie Vaihingen auch schon abgesperrt? Schatz, nimm Nadja und komm da weg!«

»Ich verstehe nicht. Ja, die Situation in Stuttgart scheint ernst, aber Valeries Mann ist schon mit der Lösung beauftragt. Wir sind hier in Sicherheit. Baby, warum rufst du an? Ist etwas passiert? Und warum willst du, dass wir hier weggehen?«

»Es gab … eine Art Virenbefall im Pub. Das ist alles nicht normal. Wie in diesen schlechten Horrorfilmen. Ich bin auf dem Weg zu euch, ich hol euch ab. Dann fahren wir weit weg. Weit, weit weg.«

»Du arbeitest zu viel. Du siehst schon Dinge …«

»Bashier. Ich meine es ernst. Wir müssen weg aus Baden-Württemberg. Stuttgart war sicher erst der Anfang. Du willst doch auch, dass Nadja in Sicherheit aufwächst, oder?«

»Baby -«

»Nein. Nein, ich hol euch. Bleibt, wo ihr seid. Wenn ihr jetzt auf die Straßen geht, weiß ich nicht, ob sie euch nicht doch auflesen und einsperren. Ich hol euch da raus. Aber versprich mir, dass du auf mich warten wirst. Dass du nichts Dummes tust!«

»Isabelle, übertreibst du es nicht ein bisschen? Was ist vorgefallen? Etwas muss doch passiert sein, so wie du dich aufführst.«

Isabelle schluckte. Wie sollte sie ihm davon erzählen, ohne als völlig verrückt abgestempelt zu werden? Auch Liebe hatte ihre Toleranzgrenzen und bei Wahnsinn war meist eine solche Grenze erreicht. »Nun, dieser Ausbruch, dieses Virus – die Leute sind … wir haben ein neues, veganes Gericht auf die Karte genommen. Und als die das gegessen haben, ist die Hölle losgebrochen. Die sind praktisch über uns hergefallen. Haben uns angegriffen, uns gebissen. Die haben Linda und Kathi getötet. Wie Tollwütige! Schatz, wir müssen hier weg!«

»Bist du dir sicher?«

»Ich hab es doch genau gesehen! Und ich weiß, was Sonja erzählt hat. Das alles ergibt Sinn. Das ist viel zu gefährlich! Wir müssen hier wirklich weg, bevor etwas noch Schrecklicheres passiert!«

»Nun … das würde die Polizisten hier erklären. Wenn eine mutierte Form der Tollwut umgeht. Valerie und ich haben in den Aufzeichnungen aus der Pyramide von ähnlichen Ereignissen gelesen. Aber – vielleicht ist das auch nur eine neue Droge, die völlig unkontrollierte Wirkungen hat.«

Isabelle schüttelte den Kopf. Manchmal machte er es ihr echt schwer, nicht vor Frust zu schreien.

»Schatz, ich komm dich holen. Irgendwie schaffen wir es da raus. Wir müssen einfach weg. Zu unserem Schutz. Zu Nadjas Schutz. Aber lass dir nichts anmerken. Ich will nicht, dass meine Süße sich fürchtet. Und … bitte, bleibt bei den Baumanns. Ich bin so schnell wie möglich da!«

»Schatz -« Doch sie konnte die Resignation in Bashiers Stimme hören. Er würde tun, worum sie ihn gebeten hatte. Doch wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor, was geschehen würde, wenn Bashier mit Valerie darüber sprach. Sie traute der schrulligen Dozentin durchaus zu, seltsame heidnische Rituale durchzuführen oder mit ihrem Mann über alles zu sprechen. Dann würde dieser Vaihingen wirklich abriegeln lassen. Isabelle hauchte ein paar Küsse ins Telefon, bevor sie auflegte.

»Egal, was passiert. Ich beschütze euch!«, murmelte sie. Sie würde sich ihre Familie, für die sie so lange gekämpft und auf die sie so lange gewartet hatte, nicht wegnehmen lassen. Von niemandenem. Schon gar nicht seltsamen, durchgeknallten Kannibalen. Als sie endlich das Stadtschild Tübingens passierte, trat sie das Gaspedal durch und überholte die Fahrzeuge vor ihr. Entschlossen, sich von nichts aufhalten zu lassen, verlangte sie ihrem Auto alles ab – und genoss es.

 

 


Kapitel 3

 

Kaum war sie von der Autobahn runter Richtung Vaihingen abgebogen, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Die Straße war wie ausgestorben. Gut, dass niemand Richtung Stuttgart fuhr, war ihr natürlich klar. Abgeriegelte Städte waren nicht gerade beliebe Ziele und auch nicht sonderlich einladend. Doch dass ihr kein Auto aus Vaihingen entgegen kam, verwunderte und beunruhigte sie zugleich. Sie drosselte die Geschwindigkeit, fuhr gemächliche 80, auch wenn es in ihrem Fuß juckte, das Gaspedal durchzudrücken. Geduld war angebracht, auch wenn sie nicht wusste, wie sie die Stärke aufbringen sollte, geduldig zu bleiben. Auf Französisch bis zehn zählend fuhr sie weiter, das Herz flatterte, das Blut rauschte in ihren Ohren. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie durfte jetzt keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn sie jetzt unangenehm auffiel, konnte sie das alles kosten. Doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich. Isabelle schluckte. Es fiel ihr schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als sie um eine Kurve bog, wäre sie beinahe in die Bremsen gestiegen. Der Ortsrand von Vaihingen war noch ein gutes Stück entfernt und nicht mehr sichtbar, was seltsam war, denn eigentlich sollte sie von hier aus schon einen guten Blick auf die Häuser haben. Stattdessen starrte sie auf ein riesiges Aufgebot an Polizeiautos, Sprintern und Hubschraubern. Autos, unzählige verschiedene Modelle in allen Farben parkten vor großen, weißen Zelten, wie man sie eigentlich nur vom Wasen kannte. Isa schluckte erneut trocken. Angst kroch ihr den Nacken hinauf. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Weit vor den Zelten standen mehrere Polizeiautos, nebeneinander, stellenweise kreuz und quer. Es sah verdächtig nach einer Blockade aus. Isabelle fluchte.

Sonja

Das grelle Neonlicht und die vielen verschiedenen Gerüche der neuartigen Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer eigenwilligen Komposition, die ihr in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein, um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah auf die Gastronomie-Messe gegangen, da neue, vegane Gerichte entdecken und die steigende Nachfrage bedienen wollte. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was sie den Gästen persönlich vorgesetzt hätte.

»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand, an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da rüber gehen. Eine ganze Theke voll von veganem Fleisch. Das muss ich sehen!«

Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah zwängte sich bereits durch die Menschenmengen hindurch und schubste sie erbarmungslos zur Seite, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.

»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze. Witziger Name.«

Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich: rote Blätter mit weiß-grüner Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotenartige Auswüchse. Die Ähnlichkeit zum Bacon war vorhanden – mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie jedoch etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich – das klang einfach zu absurd, um wahr zu sein.

»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter Beweis stellen, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie sehen. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, eine dieser Pflanzen zu bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich das angesagteste Restaurant der Stadt.«

Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss es Sonja durch den Kopf, doch sie verbot sich diesen Gedanken. Jannis war zwar nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen – somit waren sie quitt. Die Küchencrew bekam ihre verdiente Ruhe und Sarah behielt ihren persönlichen Punchingball.

Jemand stieß sie an und sie taumelte. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste, dass Sarah sich durch die Menschenmassen drängelte, um ihren Willen zu bekommen.

»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, gehetzt aussehender Mann an. Dicke Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, unterstrichen die unfassbare Wut in seinem Blick. Sonja schluckte. Etwas an diesem Blick stimmte nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder wollte sie nicht hören. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort wieder auf den Stand, er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. In Sonja wuchs die Neugier, etwas drängte sie dazu, herauszufinden, was dort vor sich ging. Der Stand, der Forscher – irgendetwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was? Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, da es veganes Fleisch gab, das nicht nur so aussah, sondern vermutlich auch nach Tier schmeckte, aber keins war? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre Neugier befriedigen konnte, schrillten Sarahs Worte in ihren Ohren. Die Aufregung ließ die Stimme der Freundin mehrere Oktaven höher klingen. Der Forscher, auf den ihre Freundin einredete, wirkte überfordert, er suchte herum, wirkte gehetzt und wollte anscheinend die nächstbeste Lücke im Besucherstrom nutzen, um zu verschwinden. Er hatte offenbar keine Ahnung, wie er mit dem Redefluss Sarahs umgehen sollte.

Sonja musste kichern. »Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den anderen hier sprechen.« Sie hatte beschlossen, den Messeteilnehmer zu retten und ihre Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der Forscher auf sie zu konzentrieren. Seine dunklen Augen starrten sie eindringlich an, so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, mehrere Schritte nach hinten zu machen, um von ihm wegzukommen. Doch sie musste Zeit schinden. Sie musterte den Laborkittelträger: Das blütenreine Weiß des Kittels leuchtete im Neonlicht, die dunklen Augen verrieten nicht, was er wirklich dachte. Dazu verkniffene Mundwinkel, ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte, und etwas, das grundlegend abstoßend war. Etwas störte Sonja gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war. Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.

»Interessieren Sie sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend – zu glatt. »Ominös! Köstlich!« Er lachte, zeigte dabei so viele Zähne, dass Sonja unwillkürlich schauderte. Sein Lachen war zu aufgesetzt, um sie nicht zu gruseln. »Gestatten Sie mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«

Offensichtlich versuchte er, Sarah zu entkommen und im gleiche Zug mit Bauernfängerei beginnen.

»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte an Sonjas Arm. »Wir wären der It-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die werden uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«

»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie funktioniert«, murmelte Sonja. »Die kann auch der gefährlichste Dreck sein, den wir jemals finden werden.«

»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. »Diese Pflanze ist ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er schnipste – eine Geste, die Sonja in jeder Hinsicht hasste. Ein junges Mädchen, höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig und ein seltsamer Geruch ging davon aus. Eine seltsame Faszination ging von der Pflanze aus. Obwohl sie sich auch abgestoßen fühlte, konnte sie nicht widerstehen und streckte eine Hand danach aus, was offensichtlich für den Forscher ein Zeichen war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Bacon-Pflanze sind phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um« – er hielt inne, zählte die Blätter – »an die zwei Dutzend Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich Ihnen.« Mit einem Nicken forderte er Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu welchen Ergebnissen man gekommen wäre. Dabei erwähnte der Laborkittelträger immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.

»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger – ich glaube nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber damit möchte ich mir ungern die Finger schmutzig machen.«

»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die Pflanzenbestandteile für den menschlichen Körper nicht schädlich sind. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«

»Das ist alles eine Lüge!« Sonja fuhr mit einem unterdrückten Kreischen zusammen. Der Mann, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, hatte wohl die Beherrschung verloren.

»Das ist alles eine Lüge!», schrie er. »Genmanipulation ist alles, aber nicht gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen Ergebnisse. Niemand kann sagen, ob die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«

Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtet hatte. Der Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen – Sonja kratzte sich am Ohr. Irgendetwas sagte ihr der Name, doch sie kam nicht sofort drauf.

»Ich gehöre zu Natureen«, rief der Typ im Kittel. »Wir beschäftigen uns mit nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollen die Bevölkerung über die Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch die Bacon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als Nahrungsquelle zu dienen!«

»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden. Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden. Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«

»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat man uns stets abgewiesen? Warum uns vom Gelände gejagt? Wenn diese Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen zukommen zulassen!«

Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche – Naturgut. Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest – nur eben für Lebensmittel – und ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit in Bezug auf genmanipulierte Lebensmittel. Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Bacon-Pflanze vor ihnen abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr miese Gefühl.

»Wir wollten eben nicht, dass unsere innovative Entdeckung zum falschen Zeitpunkt publik gemacht wird«, erklärte die Assistentin, die noch immer den Blumentopf umklammert hielt. »Wir haben nicht umsonst so viel Zeit und Geld in diese Forschung gesteckt, um dann mit Plagiaten kämpfen zu müssen. Wir wollten entscheiden, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen und nicht Natureen. Immerhin stecken viele Jahre Arbeit und eine Menge Forschungsgelder hinter dieser einzigartigen Pflanze. Das wollten wir uns einfach nicht kaputtmachen lassen.« Selbst die junge Frau schien zu merken, dass ihre Erklärung mehr als nur dürftig klang und vielmehr als halbherzige Entschuldigung durchging. Sonja tat das Mädchen leid, aber sie hatte mit Sicherheit gewusst, auf was sie sich da einließ. Und nun, nun musste sie eben dafür geradestehen.

»Ich versteh die ganze Aufregung nicht«, grummelte Sarah, den Blick noch immer fest auf die Pflanze gerichtet. »Der sagt doch, das Zeug ist harmlos. Soll halt Natureen schauen, dass sie ein Exemplar bekommen und ihre bescheuerten Tests durchführen. Ich glaub dem das. Die kann doch nicht wirklich so gefährlich sein, wie sie hier dargestellt wird. Dramaqueens. Wollt halt auch euer Stück Aufmerksamkeit.«

»Und du siehst natürlich nur den Nutzen und das Wohl unserer Gäste und nicht etwa den dicken Bonus, wenn wir das Ding in den Pub geschleift bekommen«, sagte Sonja. »Ich kenn dich doch. Menschenfreundlich wie eh und je, selbstlos bis zur Aufgabe.« Sie schüttelte den Kopf. Sarah sah nur den Profit. Den Vorteil. Wenigstens das würde sich nie ändern.

»Ach, du bist blöd.« Sarah stieß die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. »Wir müssen …« Weiter kam sie nicht. Ein plötzlicher Aufruhr unterbrach sie. Neugierig reckten die beiden Freundinnen den Hals. Vier Securitymänner liefen im Stechschritt den Gang entlang, steuerten direkt auf den Stand zu. Ihre Gesichter waren grimmig und kalt. Ein klein wenig aufgeblasen, wenn sie ehrlich war. Die Schlagstöcke gezückt und mehr Muskeln, als dass sie gut ausgesehen hätten. Sonja konnte nicht anders: Sie musste einfach kichern.

»Sie kommen mit uns«, erklangen ihre Stimmen unisono und griffen nach den Armen des Natureen-Sprechers. Zwei von ihnen hielten ihn fest, die anderen beiden wurden von den Standbetreibern über das Geschehen informiert. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, führten sie ihn ab, ignorierten dabei seine Proteste. Als er sich wehrte, schlug einer der Vier ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Sonja runzelte die Stirn. Die Reaktion der Sicherheitsleute schien ihr einfach zu überzogen, um normal zu sein. Es musste etwas Großes im Gange sein. Etwas, das mit dieser Pflanze zu tun hatte. Natureen. Muss ich …

»Sonja!«

 

  • Kapitel 2

 

Sonja schloss für einen Moment die Augen. Sarahs Stimme hatte sie aus dem Konzept gebracht.

»Sonja, ich schwöre dir, wir gehen nicht eher hier weg, bis wir dieses Ding haben!«

Ist es zu spät, um mich umzudrehen und so zu tun, als würde ich dich nicht kennen? Sonja biss die Zähne zusammen, war bemüht, die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, zu schlucken.

»Meine Damen und Herren, ich entschuldige mich vielmals für diese unnötige Unterbrechung. Wir werden sogleich mit der Demonstration fortfahren, wenn sich alles ein wenig beruhigt hat.« Das künstliche Lächeln des Forschers verursachte bei Sonja Zahnschmerzen. »Bitte scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen oder Zweifel zu äußern. Wir werden all Ihre Einwände aufnehmen und unsere Erkenntnisse an Sie weitergeben. Treten Sie näher! Beseitigen wir die Unklarheiten.«

Na, wie das Beseitigen aussieht, haben wir ja gerade gesehen. Sonja spielte mit der großen Holzcreole in ihrem rechten Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie einer Sache nicht traute. Es war ein großer auffälliger Ohrring, schließlich besaß sie nur einen davon. Und sie trug ihn beinahe schon trotzig als Gegensatz zu den vielen Steckern im linken Ohr.

»Ich habe eine Frage«, meldete sich Sarah und Sonja verdrehte die Augen. Was jetzt kommen würde, hatte nichts, rein gar nichts mit der Forschung zu tun. Sarahs Plan stand fest und sie würde nun so lange auf den Laborkittelträger einreden, bis er ihr die Pflanze überreichte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. »Wie viele Exemplare sind denn im Umlauf? Und wo? Und nach welchen Kriterien wird entschieden?«

»Bloß keine Zeit verlieren, ne?«, stieß Sonja zwischen den Zähnen hervor. Ihr Blick wanderte über die anderen Stände, an denen neuartige Herstellungsmethoden, allerlei Pasta- und Nudelsorten angepriesen wurden, und mit einem Mal kam ihr die verlockende Vorstellung in den Sinn, wie man daraus Maultaschen herstellen könnte – auch wenn sie durchaus wusste, wie man sie machte. In diesem Moment hätte sie auch mit einem Zeugen Jehovas gesprochen, nur um dieser äußerst unangenehmen Situation entfliehen zu können. Warum konnte die Intergastra denn nicht gleichzeitig zur Tuning World stattfinden? Dann hätte Sarah sie niemals versucht, zu überreden, mitzukommen, sondern hätte sie tagelang mit ihrer Liebe zu schönen, schnellen und teuren Autos aufgezogen. Zurecht, wenn sie ehrlich war. Sie liebte den Anblick schöner Karosserien, auch wenn sie von den Besonderheiten spezieller Modelle nicht viel Ahnung hatte. Doch den Rausch der Geschwindigkeit, weiches Leder auf der Haut – sie könnte stundenlang über die Autobahn brettern, länger, als sich hier auf der Intergastra tot zu schwitzen und sich Sarahs Geschwätz anzutun. Wären sie durch all die Jahre Küchendienst nicht zwangsläufig Freundinnen geworden – wenn man es denn als Freundschaft bezeichnen wollte -, wäre sie wohl heute nicht mitgekommen. Aber der Schaden, der entstanden wäre, wenn Jannis oder einer dieser Ja-Sager mitgekommen wäre, wäre nicht auszudenken. Peter wäre ausgeflippt. Sarah hätte großkotzig eingekauft, die andere hätten es nie gewagt, ihr zu widersprechen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. So hatte sie wenigstens schlimmeres verhindern und Sarah davon abhalten können, Küchengerätschaften zu kaufen, die zwar super aussahen, aber absolut unnötig waren. Jetzt musste sie nur noch verhindern, dass Sarah diese Pflanze in die Finger bekam. Sonja seufzte. Das Leben kann echt scheiße sein, aber immerhin ist es kurz und wenn ich mir die Assistentin und diesen Forscher so anschau, könnte ich es durchaus schlimmer erwischt haben und mich intensiver mit Sarah auseinandersetzen.

»Ich wüsste nicht, warum Sie das interessieren sollte, junge Dame.« Der Forscher lachte gekünstelt, wohl um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, doch Sonja hatte durchaus bemerkt, dass Sarah zu weit gegangen war. »Aber ich kann Ihnen versichern, das hier« – er deutete auf die Pflanze – »ist das letzte Exemplar, das wir einem Gastronomiebetrieb zur Verfügung stellen können.«

»Dann sollten Sie klug handeln und mir die letzte Pflanze mitgeben.« Sarah lächelte den Laborkittelträger breit und strahlend an. »Und warum sollte ich das tun? Welchen Nutzen hätte es, Sie in die Testgruppe aufzunehmen? Ihnen das letzte Exemplar zu geben?« Der Forscher beugte sich vor. Sonja fiel auf, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste. Die ganze Vorstellung wurde ihr immer unheimlicher.

»Lass uns gehen! Sarah, komm schon. Hier stimmt was nicht. Ich trau dem Ganzen nicht. Lass es einfach gut sein.« Worte der Vernunft erreichten Sarah schon im Normalzustand selten, doch war sie auf Beutefang, so wie jetzt, war es schier unmöglich, zu ihr durchzudringen.

»Wir beide«, Sarah deutete auf Sonja, »sind Küchenchefinnen im angesagtesten Laden ganz Tübingens. Der Irish Pub. Wir sind für unsere außergewöhnliche Küche bekannt und haben immer ein volles Haus. Es wäre also nur von Vorteil, uns diese Pflanze mitzugeben, da sie so viele, richtig viele Veganer und Vegetarier erreichen.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit.« Sonja rieb sich den Nacken.

»Wir sind beliebt. Jeden Abend und jeden Mittag rennen uns die Leute die Bude ein. Wir sind DER Szene-Laden schlechthin.« Sarah lief zu Hochtouren auf. »Es hat also nicht nur den Vorteil, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, sondern auch außerhalb Stuttgarts bekannt zu werden. Win-win-Situation für uns beide.« Bei jedem Wort war sie einen Schritt näher an den Forscher getreten, bis sie ihm letzten Endes ins Gesicht starrte, ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Augen leuchteten und Sonja wusste, dass Sarah den Geldregen geradezu vor sich sah. Ein kurzer Blick auf das Gesicht des Forschers zeigte ihr, dass es ihm ähnlich ging.

Sonja seufzte. Super.

»Die Möglichkeiten, die Forschungsarbeiten auszuweiten, Tübinger Studenten miteinzubeziehen – wir haben immerhin die berühmte Morgenstelle! – stellen Sie sich doch nur mal all diese Möglichkeiten vor!« Sarah war Feuer und Flamme.

Ja, ja. Die Möglichkeiten. Weil unsere Lebensmittel-Genforschung ja auch so ausgeprägt ist!

»Ich …«

»Was denken Sie denn da noch lange darüber nach! Es bleibt Ihnen eigentlich nichts anderes übrig, als uns diese Pflanze mitzugeben. Wir sind die Zukunft Ihrer Forschung! Mit unserer Hilfe werden Sie mehr Ergebnisse bekommen, als mit allen Restaurants in Stuttgart zusammen!«

Sonja wandte den Kopf ab. Sarahs Überzeugungsargumente schlugen eine Richtung ein, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Sarah, übertreib es nicht! Bleib bei der Wahrheit – und in der Realität!«, zischte sie der Freundin ins Ohr. »Langsam, aber sicher ist es genug!«

»Du hast einfach keine Ahnung, wie man sich verkauft. Und jetzt lass mich!«

»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich bin raus! Das musst du alleine machen.«

»Das bin ich ja schon gewohnt. Wenn es hart auf hart kommt, taugt keiner von euch was. Nur wenn ich das selbst in die Hand nehm, wird das was!«

Sonja verdrehte die Augen. »Meld dich, wenn du nach Hause willst. Ich geh noch bisschen in die Stadt.«

»Jaja, schon recht.« Sarah schien ihr schon nicht mehr zuzuhören. Sonja warf einen letzten Blick auf die Freundin, bevor sie dem Stand den Rücken zukehrte. Und noch während sie aus der Messehalle ging, langsam, durch die Menschenströme geblockt und behindert, konnte sie hören, wie Sarah immer noch auf den Forscher einsprach und ihn zu überzeugen versuchte. Sonja schüttelte den Kopf. Sollte es Sarah gelingen, diese Bacon-Pflanze zu bekommen, würde sie die nächsten Tage, Wochen, Monate wie ein aufgeblasener Gockel herumstolzieren. Sie konnte schon jetzt die Serviceleute hören, die sich lautstark beschwerten. Und Sarah, die mit allen Mitteln versuchte, sich einen großen Vorteil an Macht und Privilegien zu sichern. Konnte sie nicht einfach wieder schwanger werden?

Lea

Blut lief in einem dünnen Rinnsal ihren Arm hinunter. Sie tastete ihre Schulter ab, suchte die Stelle, an der das Blut herausfloss. Zwar blutete die Wunde über ihrem Schlüsselbein, aber offensichtlich war es nur eine kleine Fleischwunde. Warum hatte sie auch mit aller Macht versucht, über den Maschendrahtzaun zu klettern? Nur weil der Weg kürzer war und an den Militärstationen vorbeiführte? An den Sicherheitskontrollen und Überwachungstürmen? Sie fluchte – und hätte sich am liebsten im selben Moment dafür geohrfeigt. Eigentlich sollte sie es besser wissen: Ein falscher Laut, eine falsche Bewegung und sie würden sie finden. Sie jagen. Sie verfolgen. Sie fressen. Lea dachte oft an die Zeit, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Als ihr Vater noch lebte und ihr den Weg wies. Ihr zeigte, wo sie sich verstecken konnte. Doch das war schon lange vorbei. Er war tot. War ihnen zum Opfer gefallen. Hatte es getan, um Lea zu schützen. Gestorben, weil sie unbedingt in der Staatsgalerie übernachten wollte. Sie ein letztes Mal sehen wollte, bevor die Zone geschlossen wurde.

Ein schlurfendes Geräusch, ließ sie herumfahren. Reglos verharrte sie, lauschte. Lea hielt den Atem an, zog aus der zerschlissenen Umhängetasche ihren Schutzumhang hervor und warf ihn sich über. Beim Verwesungsgeruch, der sich um sie legte, überschlug sich ihr Magen und sie kämpfte den Würgereiz nieder. Wenn sie sich jetzt übergab, wäre sie verloren. Ob mit »Schutzumhang« oder ohne. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Mit der Technik, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, reduzierte sie ihren Herzschlag auf ein Minimum. Senkte ihn, so dass ihr Herz nur noch ganz langsam schlug. Gleichzeitig atmete sie flacher, bewegte sich wie in Zeitlupe und zog den Umhang enger, bevor sie im Schutz der Dunkelheit vorwärtsging. Sie achtete darauf, bei jedem Schritt ein Bein hinterherzuziehen, zu schlurfen und dabei möglichst wenig menschlich zu wirken. Nicht auffallen, nicht sprechen, keine Lebenszeichen – zumindest keine allzu deutlichen – zu zeigen. Das waren die Dinge, die ihr Vater ihr eingeschärft hatte. Sie zog den Umhang noch etwas fester und setzte sie ihren Weg fort. Der Verwesungsgeruch wurde stärker. Kam näher. So nah! Sie waren so nah! Doch Lea kannte die Gassen und dem Verfall ausgelieferten Gebäude um die Staatsgalerie besser als jeder andere. Sie würde unbemerkt an ihnen vorbeikommen, und wenn die Galerie erst einmal in Sichtweite lag, wenn sie die erste Falle aktivieren konnte, dann würde sie sich zu erkennen geben. Und würde sich neue Beute verschaffen. Lea lächelte. Die Staatsgalerie war ihr Zuhause. Ihre Zuflucht. Und zugleich die Ruhestätte ihres Vaters. Sie würden Lea nicht kriegen.

 

Sie blinzelte gegen die Sonne, als sie aus den dunklen Schatten trat. Schlurfend, wie eine von ihnen. Inmitten von ihnen. Lea bemühte sich, ihren Herzschlag weiterhin niedrig zu halten. Flach zu atmen. Wie eine von ihnen. Sie hatte sie lange genug beobachtet, um zu wissen, wie sie sich bewegen musste. Wie sie den Kopf halten musste. Was sie tun musste, um sie zu fangen. Unwillkürlich entwich ihr ein Knurren. Der Gedanke an ihren Vater, an ihre Schwester – was sie getan hatten, brachte Lea dazu, jede Vorsicht zu vergessen. Doch offenbar war ihr Knurren nicht aufgefallen. Natürlich nicht. Denn diese Wesen nur auf eindeutig menschliche Laute.

Vor ihr gelangte die Staatsgalerie in Sichtweite. Nicht mehr lange und sie würde ihren Schutzumhang fallen lassen können. Sich als Mensch zu erkennen geben. Andreas würde schon dafür sorgen, dass sie sie nicht bekamen. Wahrscheinlich saß er schon auf seinem Posten. Lea hoffte es zumindest.

Andreas. Wenn sie an ihn dachte, wurde ihr warm ums Herz. Ohne ihn hätte sie längst aufgegeben. Ihrem Leben ein Ende gesetzt. Wäre dem Weg ihrer Familie gefolgt. Doch so – so kämpfte sie um das Leben, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Lea lächelte. Ja, es war jetzt nicht besonders gut, aber es war ein Leben. Mit allem, was sie brauchte. Nun, fast allem.

Eine Bewegung neben ihr, ließ sie aufschrecken. Der Infizierte zu ihrer Rechten bewegte sich überraschend schnell auf sie zu. Schnuppernd, beinahe schnüffeln hatte er sich ihr zugewandt. Lief hinter ihr her. Lea musste all ihre Willenskraft aufbringen, um ihr Herz weiterhin ruhig schlagen zu lassen. Den Blick möglichst ausdruckslos starrte sie ihm ins Gesicht. Nichts geschah. Er schnüffelte erneut, sog die Luft tief ein. Seine Augen weiteten sich – Gier blitzte darin auf. Er fletschte die Zähne und ein raubtierhaftes Knurren drang aus seiner Kehle. Lea wusste, sie konnte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, sonst würden sie sie bekommen. Der Infizierte gab ein Geräusch von sich, das ihr durch Mark und Bein ging. Lea wusste: Er hatte sie durchschaut.

Mit einem Schrei der Verzweiflung warf sie den Umhang von sich und rannte los. Sie rannte direkt auf die Galerie zu. Schlug Haken. Wich den Infizierten aus, die sich so ungewöhnlich schnell bewegten. Das Virus hatte sich weiterentwickelt. Hatte die Befallenen schneller, aggressiver, aber keineswegs klüger gemacht.

Doch Lea war darauf vorbereitet. Andreas und sie hatten unermüdlich trainiert – was ihr in diesem Moment einen Vorteil verschaffte. Wendig und schnell rannte sie zwischen den Infizierten hindurch, wich den gierigen Händen aus und pfiff dabei in gellender Lautstärke. Ihr Zeichen für Andreas. Mit etwas Glück würde sich vielleicht auch das Militär einschalten – immerhin war dies Sperrgebiet und stand unter ständiger Beobachtung. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Himmel. Sie suchte die Helikopter. Die Schützen. Doch dieses Mal schienen sich die Freunde der Tarnfarben zurückzuhalten und glänzten durch Abwesenheit. Lea fluchte. Falscher Zeitpunkt, Jungs! Sie hätte absolut nichts dagegen gehabt, wenn sich das Militär selbst zu dieser Party eingeladen und die Infizierten unter Beschuss genommen hätte.

Etwas packte sie am Handgelenk. Lea zerrte, kam aber nicht frei. Das Gesicht des Infizierten hatte sich zu einer hungrigen Fratze verzerrt – angsteinflößend und gierig. Geifer lief ihm aus dem weit aufgerissenen Mund, ein Aufblitzen fauliger Zähne. Sein Atem schlug ihr entgegen und verbreitete dabei den Gestank von Tod, Blut und Fleisch. Lea spürte, wie sich ihr Magen wieder verkrampfte, und kämpfte mit aller Macht die Galle nieder. Er roch ihr Blut, das wusste sie. Sie hätte sich vielleicht doch etwas um die Wunde binden sollen. Einen Verband, den sie dann mit der Haut der Infizierten umwickelt hätte. So hatte sie sich auf ihren wallenden Schutzumhang verlassen, was anscheinend ein Fehler gewesen war. Der Infizierte zog ihren Arm zu sich heran, wollte hineinbeißen. Lea stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Sie wusste, ein Biss und sie würde wie sie werden.

»Lass mich los!«, schrie sie. Lea wusste sich nicht anders zu helfen. Sie trat nach dem Infizierten, schlug ihm mit der freien Hand ins Gesicht. Andere Infizierte wurden auf sie aufmerksam, kamen näher. Schlurfend. Schnüffelnd. Geifernd. Und nach ihrem Fleisch gierend. Lea griff in ihre Tasche. Suchte ihre Waffe, eine kleine Beretta, die sie einem sterbenden Polizisten abgenommen hatte. Im allerletzten Moment umschlossen ihre Finger die Waffe, rissen sie heraus und Lea schoss dem Infizierten mitten ins Gesicht. Der Griff um ihr Handgelenk löste sich. Und Lea rannte. Sie musste doch nur den Vorhof erreichen. Nur diese eine Markierung passieren. Dann würde Andreas die Infizierten, die ihr folgten, ausschalten und sie wäre in Sicherheit. Lea beschleunigte ihre Schritte, die Pistole in der Hand. Das kühle Metall wirkte geradezu beruhigend, gab ihr ein Gefühl von Schutz.

Ein Schuss ertönte.

Noch einer.

Und noch einer.

Lea hätte am liebsten geweint. Erschöpft rannte sie weiter, stolperte, spürte jeden Muskel ihres Körpers. Ihre Beine zitterten. Über ihr erklangen die rotierenden Hubschrauberblätter und Erleichterung durchströmte Lea, der ihr neuen Auftrieb gab. Andreas hatte sicherlich längst seinen Posten bezogen. Obendrein hielt ihr das Militär endlich den Rücken frei. Lea stolperte die Stufen zur Staatsgalerie hinauf. Mit letzter Kraft drückte sie den Schalter, der die Fallen aktivierte, die Andreas und sie sich aus den Ausstellungsstücken und dem Inventar der Kaufhäuser im Umfeld konstruiert hatten und lehnte sich mit einem Seufzer gegen eine Säule, um wieder zu Atem zu kommen. Das Surren der Laser beruhigte ihre Nerven. Lea lehnte ihre Stirn an die Säule, kühlte die erhitzte Haut am Stein.

»Lea!« Sie schreckte auf. »Lea, beweg deinen Arsch hier rein!«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Andreas‘ nette Aufforderung konnte sie unmöglich ignorieren. Sie warf einen letzten Blick auf die Infizierten, die ihr gefolgt waren, bevor sie durch den Eingang schlüpfte und Andreas gegenüberstand.

»Na, du hast dir ja ordentlich Zeit gelassen! Nichts geht über einen kleinen Abenteuerspaziergang, hab ich recht?«

»Du bist manchmal ein echter Penner, hat dir das schon Mal einer gesagt?« Lea strich sich eine Strähne hinters Ohr und atmete tief durch. »Hölle, war das knapp!«

»Und es ist noch nicht vorbei!« Andreas zog sie von der Tür weg. »Sie haben den ersten Ring durchbrochen. Unsere Freunde vom Militär sind zwar fleißig dabei, alles niederzuschießen, was sich bewegt, aber es haben zwei oder drei ihren Weg durch unsere erste Laserschranke gemacht. Was willst du jetzt tun? Abwarten und zusehen, ob sie die Tesla-Schranke überleben oder dich wie Rambo dem Schussfeuer anschließen?«

»Nun, einer sollte in eine der Fallen tappen. Schließlich habe ich meinen Schutzumhang verloren. Und du weißt, wie begehrt diese Umhänge auf dem Schwarzmarkt sind.«

»Also warten wir?« Andreas schien von dieser Idee nicht gerade begeistert zu sein. Lea seufzte, wollte gerade etwas sagen, als sie eine Bewegung auf einem der Überwachungsmonitore bemerkte. Eine Bewegung, die sie nicht erwartet hatte. Einer der Infizierten stand vor der Eingangstür der Staatsgalerie und starrte direkt in die Kamera.

»Lea? Lea, siehst du das?«

»Was zum Teufel …? Andi, ich glaube, du kannst jetzt zeigen, wieviel Rambo in dir steckt.« Lea griff nach den Waffen im Schrank neben der Tür, wählte eine Schrotflinte und verzog das Gesicht, während sie sie durchlud. »Auf geht’s! Schießen wir ein paar Infizierten die Gesichter weg!«

 

Lea stand auf dem Vordach des Eingangspavillons, zwischen zwei der gläsernen Dreiecke, und schoss. Der Rückstoß der Schrotflinte drückte sie immer weiter an die Wand des Pavillons. Schmerzhaft drückte der Stein in ihren Rücken, doch wenn sie Andreas nicht die volle Wahrheit sagen wollte, musste sie den Schein bewahren und auf die Infizierten schießen. Mit der Schrotflinte war sie nicht so effizient wie Andreas mit seinem Gewehr – er erinnerte sie an ihren kleinen Bruder, der in den Ego-Shooter immer die Rolle des Snipers gewählte hatte. Andreas lag auf dem Dach des Pavillons, völlig auf die Infizierten konzentriert, bereit, jeden Einzelnen zu töten. Lea lud nach, biss sich auf die Unterlippe und schoss erneut auf einen Infizierten. Es war eigentlich vollkommen unnötig und nichts als Munitionsverschwendung, aber es war etwas, was sie tun musste, wenn sie die Fassade aufrechterhalten wollte. Dabei würde keiner durch die Galerie in ihr Versteck gelangen, selbst wenn einer der Infizierten durch den Haupteingang eindrang. Sie hatte so viele Fallen konstruiert, so viele Hindernisse aufgebaut – das, was Andreas und sie taten, war einfach nur unnötig.

»Lea!«

Sie hob den Kopf. Andreas deutete auf eine kleine Gruppe Soldaten, die sich der Galerie näherten und die Infizierten vor sich hertrieb.

»Was machen die da? Lea! Was machen die da?«

»Ich weiß es nicht!« Und wie sie es wusste. »Lass uns nach drinnen gehen! Ins Versteck! Wir können alles über die Monitore beobachten, aber so können sie nicht zufällig auf uns schießen. Sie wollen uns hier nicht haben. Das weißt du. Die Sperrzone ist nun mal für die Gesunden verboten. Und das werden sie durchsetzen. «

»Aber sie, die Infizierten …«

»Andreas! Du weißt, sie kommen hier nicht lebend durch! Wie oft müssen wir uns denn noch darüber streiten?« Lea kletterte zu ihm aufs Dach. »Komm jetzt! Bevor sie wirklich auf uns zielen!« Lea zog Andreas zur Luke, die ins Innere der Galerie führte, und klettere hindurch.

»Lea! Was ist mit den Infizierten? Was, wenn sie durchkommen? Was, wenn die Jungs vom Militär sie nicht in Schach halten können? Die treiben sie doch direkt auf uns zu!«

»Jetzt komm endlich rein! Himmel! Und geh mir nicht auf die Nerven!« Lea schüttelte den Kopf. »Komm jetzt!« Sie zog Andreas mit sich, beide schulterten ihre Waffen. Sie kamen jedoch nicht weit, denn ein ohrenbetäubendes Poltern ertönte an der Eingangstür des Pavillons. Erschrocken fuhren sie beide herum, Lea lud die Waffe durch, Andreas zielte mit zitternder Hand auf den Eingang.

»Spar dir dein >Ich hab’s dir ja gesagt<!«, knurrte Lea und lief langsam rückwärts. Das Poltern vermischte sich mit einem Kratzen. Schüsse erklangen.

»Ja, ich sag ja schon nichts! Aber …«

»Nichts aber! Los! Lauf!«, schrie Lea, drehte sich um und rannte. »Andreas! Oder willst du gefressen werden, falls sie durchbrechen?« Oder gebraten, dachte sie, wenn ich alles aktiviert habe. Der Kontrollraum. Ihr Hafen. Ihre Burg in diesem von Fallen wimmelnden Labyrinth. Egal wie viele Sorgen sich Andreas machte, wie oft er glaubte, sie würden durchbrechen – keiner von ihnen war jemals bis zum Direktionsgebäude gelangt. Keiner hatte je den Kontrollraum erreicht.

Im Vorbeigehen drückte sie die Schalter. Aktivierte die Fallen. Die Tesla-Laser-Fallen. Die Stacheldraht-Fallen. Alles, was sie sich zusammengebastelt hatte. Auch die Fallgruben. Die Fangnetze mit den Schockimpulsen, von denen Andreas nichts wusste. Und niemals etwas erfahren würde.

»Lea! Bist du sicher, dass sie nicht durchbrechen können?«

»Andreas!«, keuchte sie. »Halt. Die. Fresse!« Sie schlitterte über den glatten Boden, bog schwungvoll um eine Ecke und krachte gegen die Wand. Die Schrotflinte drückte ihr unangenehm ins Fleisch. Schmerz durchfuhr sie, als sie sich den Kolben ins Knie rammte.

»Alles Okay bei dir?« Andreas war stehengeblieben. Stand einfach nur da und sah sie an.

»Steh doch nicht so dumm rum!« Lea spürte, wie ihr die Wuttränen über die Augenlider quollen wollten. Sie griff Andreas’ Hand, rannte weiter, riss ihn mit. »Komm endlich! Himmelherrgott! Für jemanden mit deinen Panikattacken bist du echt unvorsichtig!« Die Flinte schlug ihr beim Laufen gegen die Hüfte, Andreas‘ Hand rutschte vor Schweiß beinahe aus ihrer. Lea rümpfte die Nase. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht tatsächlich ohne ihn besser dran wäre. Mit schmerzhaft verkrampften Oberschenkelmuskeln und zitternden Knien stolperte sie endlich die Treppen zum Kontrollraum hinauf. Die metallene Sicherheitstür glänzte im hereinfallenden Sonnenlicht – ein Augenblick, der sie ungemein beruhigte. Sie beschleunigte ihre Schritte, mobilisierte ihre letzten Kräfte.

»Lea, bist du sicher, dass …«

»Andreas! Lass es jetzt gut sein!« Lea keuchte, japste nach Atem. Mit zitternden Händen tippte sie die Kombination für das Sicherheitsschloss und ignorierte Andreas. Mit einem tiefen Knarzen schwang die Tür im Schneckentempo auf. Notiz an mich: Öle diese verdammte Tür! Sie huschten hinein und Andreas drückte den Knopf, so dass die Tür wieder im gleichen unpassenden Tempo zuschwang, und lächelte Lea an. »Wir haben es geschafft! Wir sind in Sicherheit!«

»Hurra!«, murmelte Lea monoton. Sie warf sich auf einen der Schreibtischstühle vor den Monitoren und atmete tief durch. Was hätte sie jetzt nicht alles für eine Valium gegeben! Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich zu entspannen. »Und nun? Was machen wir jetzt?«

Sie rieb sich die Schläfen. »Valium. Jetzt!«, hätte sie am liebsten geantwortet. Doch stattdessen sagte sie: »Wir machen dasselbe wie jeden Abend. Wir warten ab. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Dann drehen die ja sowieso am Rad.« Lea gähnte. »Also, lass uns unsere Kräfte sammeln, damit wir morgen einigermaßen ausgeruht auf dem Schwarzmarkt ankommen.«

»Du hast wohl gute Beute gemacht?«

Lea schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Tasche. Sie lächelte, als sie den angewiderten Gesichtsausdruck Andreas‘ wahrnahm, der das getrocknete Blut auf der Taschenoberseite bemerkt haben musste. Neben dem strengen Geruch der Verwesung.

»Boah! Muss das so stinken?«, fragte er.

»Soll ich dir noch einmal erklären, wie wichtig unsere Tarnung ist? Hast du es den immer noch nicht begriffen?« So gern sie ihn auch hatte, an manchen Tagen benahm er sich wie der letzte Trottel. Wären die Infizierten nicht auf Gehirne aus gewesen, hätte er sich an Tagen wie diesem nicht vor ihnen verstecken müssen! Mit einem tiefen Seufzer stand sie widerwillig auf, kippte den Inhalt der Tasche aus und warf Andreas einen vielsagenden Blick zu. »War das jetzt so schwierig?«

»Ja!« Andreas beugte sich vor, sog die Luft ein. »Bäh! Lea! Du stinkst wie die!«

Lea sparte sich eine Erwiderung, ging zu den Monitoren hinüber und starrte auf die Infizierten, die vom Militär zur Galerie getrieben wurden.

»Was machen die da?« Andreas war hinter sie getreten. »Die treiben die Kranken ja voll in unsere Richtung! Wollen die uns damit einschüchtern?«

Lea nahm sich vor, Max zu danken, dass er ihr wieder einmal neue Beute lieferte.

»Nein. Ich nehm‘ an, sie treiben sie einfach in die Enge. Auf freiem Feld sind die Infizierten schwieriger zu treffen, als wenn sie auf einem Haufen stehen.« Sie schnüffelte. Okay, es war Zeit, sich sauber zu machen. »Mach dir nicht ins Hemd! Es wird schon nichts passieren.« Sie zwinkerte ihm zu, bevor sie in dem Raum verschwand, den sie zum Bad umfunktioniert hatten. Regenwasser, Seife – mehr an Luxus gab es nicht. Und selbst damit musste sparsam umgegangen werden.

»Lea, ich bin nur vorsichtig. Ich mache mir halt Sorgen, wenn du da draußen alleine unterwegs bist. Du musst deswegen nicht gleich gemein zu mir sein!«

»Ich …« Lea prustete, als sie Wasser in den Mund bekam. »Ich bin nicht gemein zu dir! Nicht absichtlich! Ich bin einfach nur furchtbar gestresst. Tut mir leid.« Zum Glück konnte Andreas ihr Gesicht nicht sehen, denn Lea verzog bei der Lüge, die ihr so einfach über die Lippen gekommen war, das Gesicht. Sie war wirklich nicht absichtlich gemein zu ihm, aber es war ermüdend, fast alles alleine tun zu müssen. Für alles alleine verantwortlich zu sein.

Und trotzdem – sie wollte ihn nicht verletzen. Er war das Einzige, was ihr an Familie geblieben war. Der Einzige. Sie drängte bei dem Gedanken mit aller Macht ihre Tränen zurück. Als sie das Kalte Regenwasser abstellte, fühlte sie sich erleichtert und fing fast im selben Moment damit an, sich die Haut warm zu rubbeln. Der vermutlich größte Nachteil, wenn die Zivilisation zusammenbrach, war die mangelnde elektrische Versorgung.

Keine Heizung. Kein warmes Wasser. Lea wollte bestimmt nicht an den Winter denken.

»Er tut mir wirklich leid«, erklärte sie, während sie ihre frischen Sachen anzog. Und jetzt, dachte sie, muss er nur noch antworten: Dann lass mich dir helfen! Ich kann doch mitkommen! Zu zweit können wir mehr tragen und uns besser verteidigen! Du musst nicht alles alleine machen! Ich bin für dich da! Du musst es nur zulassen!

Lea biss sich auf die Lippe. »Nun gut … wenn du unbedingt möchtest, dann soll es so sein. Dann kommst du morgen einfach mit.« Unwillkürlich musste sie lächeln, als sich Andreas’ Gesicht aufhellte.

»Du siehst müde aus.« Eine gewisse Sorge klang in seinen Worten an. Mit einem Klopfen deutete er ihr, sich neben ihn zu setzen. Das Feldbett, dieses klapprige Etwas, sah tatsächlich mit einem Mal unglaublich verlockend aus. Ihr erster Impuls wollte ihm widersprechen, wollte etwas anderes tun. Doch dann gab sie nach und ließ sich neben ihm nieder. Mit geschlossenen Augen genoss sie seine Hände auf ihrer Haut. Die sanften Berührungen. Die wohltuende Massage.

Schließlich versank sie in einem erholsamen Schlaf.

Das Spiel von Licht und Schatten – Verloren

 

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»Konzentriert euch! Euer Element, Eure Magie, der Ursprung Eurer Macht ist der Mittelpunkt, auf den Ihr Euch fokussieren sollt. Stellt ihn Euch als Kugel vor. Als Energieball. Nun stellt euch vor, wie Ihr Eure Hände nach dieser Energie ausstreckt, sie ergreift und Euch zu eigen macht.« Leoth, ein großer, löwenartiger Mann mit glühenden Augen, in denen unaufhörlich sein Element loderte, schritt zwischen seinen Lehrlingen hindurch. Der strenge Gesichtsausdruck und die züngelnden Flammen seiner Magie um seinen Kopf verstärkten die Aura der Macht, die ihn umgab. Seine Stimme, kräftig und mit hypnotisierender Wirkung, machte ihn als Lehrmeister besonders, da sich keiner seiner Schüler der Anziehungskraft entziehen konnte. Es schien, als hätten sie gar keine andere Wahl, als seinen Anweisungen zu folgen. Abgesehen davon wurde er es niemals müde, immer und immer wieder auf die Gefahren hinzuweisen, die Ungehorsam mit sich brachte, und die verheerenden Folgen aufzuzählen, so dass sie nie in Vergessenheit gerieten. Wenn die Macht eines Magiers außer Kontrolle geriet, so verzehrte eben jene Kraft alles Leben im Körper des Zauberers und ließ eine vertrocknete, sterbende Hülle zurück. Daher legte Leoth besonderen Wert auf die Disziplin und Kontrolle der Magie, um seinen jungen Schülern solch ein Schicksal zu ersparen.

Leoths Blick wanderte über die Gesichter seiner Schüler, die alle vor Konzentration verzerrt waren. Alle – bis auf eines. Stirnrunzelnd blieb er bei dieser einen Schülerin stehen. Ihre Aura flackerte unstetig und er konnte ihre Unsicherheit, aber auch ihre kindliche Freude spüren, während sie ihr Element beobachtete, das spielend um sie herumtobte. Sie schien ihrem Element den freien Willen zu gewähren. Er sah, wie ihre Augen in einem satten, strahlenden Grün leuchteten, während sich ihre Magie in Form von Blüten und Blättern manifestierte. Auch ihr Element leuchtete strahlend Grün und hob sich deutlich von dem dunkelroten Haar der Erdmagierin ab, mit dem spielte. Es schien, als wollte es sie schmücken und ihr gefallen.

Leoth seufzte resigniert. Diese Erdmagier treiben mich noch in den Wahnsinn! Es ist doch immer das Gleiche mit ihnen! Kein Gespür für Gefahr! Keinen Funken Disziplin im Leib!

»Anaria, meine Aufgabe ist es, Euch auf das Amt des Wächters vorzubereiten! Euch wenigstens ein bisschen Disziplin und Kontrolle beizubringen! Wie soll ich das bewerkstelligen, wenn Ihr nicht einmal die Grundzüge der Magie meistert? Wie wollt Ihr Euren Aufgaben gerecht werden, wenn Ihr nicht einmal Euer Element unter Kontrolle halten könnt?«, fuhr er sie gereizt an.

Die junge Erdmagierin erbleichte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und in den goldgrünen Tiefen, die an glitzernde Smaragde erinnern, zeichnete sich Schock ab. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als sie den missbilligenden Blick Leoths auffing und seine harschen Worte auf sie wirkten.

»Verzeiht, Meister … aber … ich … die Erde … mein Element möchte frei sein! Es fühlt sich wohler, wenn ich ihm den freien Willen gewähre und ihm nicht meinen aufzwinge. Ich bin glücklicher, wenn es frei ist und es ist viel glücklicher! Es mag nicht kontrolliert werden!« Sie blickte zu Leoth auf. Er konnte Hoffnung in ihren Augen schimmern sehen. Hoffnung auf Verständnis.

»ES GEHT NICHT DARUM, WAS DEIN ELEMENT BEGEHRT, SONDERN WAS DU VON IHM VERLANGST!«

Das laute Schluchzen Anarias, das auf Leoths zornigen Ausruf folgte, entfachte seinen Zorn erst recht. Er öffnete den Mund, um zu einer seiner berühmt-berüchtigten Predigten über Stärke, Disziplin und Unnachgiebigkeit anzusetzen, als glimmende Funken und winzige Eiskristalle durch die Luft stoben. Glitzernd schwebten sie durch die Luft, bestaunt und bewundert von den anderen Schülern.

Leoth wirbelte aufgebracht herum. Ein wildes Knurren drang aus seiner Kehle, verstärkte den löwenartigen Eindruck seiner Erscheinung, während er die Unruhestifter suchte..

Wut kochte in ihm auf, als er sich zwei seiner Schüler näherten, die sich mit ihren Elementen bekämpften.

»Amandria! Raphaios!«, bellte er. Anarias Tränen waren schlagartig versiegt. Ihre Augen glänzten vor Bewunderung, wie Leoth verärgert feststellte. Die bewundernden Blicke, die den beiden zugeworfen wurden, verstärkten seinen Zorn. Es mag durchaus stimmen, dass Amandria und Raphaios die vollständige Kontrolle über ihre Elemente haben, dennoch sollten sie sich in Disziplin üben! Diese leichtsinnigen Kämpfe setzen den anderen nur Flausen in den Kopf! Allerdings konnte Leoth nicht anders, als seine beiden Schüler für ihr Talent zu bewundern.

Als Leoth die beiden erreichte, warf Raphaios mit einer geschmeidigen Bewegung Feuerbälle in Amandrias Richtung und beschwor gleichzeitig einen Feuerkreis. Leoth hob eine Augenbraue. Mit verschränkten Armen wollte er Amandrias Reaktion abwarten, bevor er dem Spektakel ein Ende setzte.

Ein feines Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er den Spott in Amandrias Augen aufblitzen sah. Der türkisfarbene Ring um ihre Pupille leuchtete hell auf, als sie in einer Wasserlache verschwand. Leoth runzelte die Stirn. Er ahnte, was seine Schülerin plante, doch sicher war er sich da nicht. Raphaios schien verunsichert, wie Leoth amüsiert feststellte. Der misstrauische Blick des jungen Feuermagiers huschte wild umher. Plötzlich wurde Raphaios von einer Fontäne umschlossen und Amandria erschien lachend. Leoth blinzelte überrascht, als sich die Fontäne senkte, aufbrach. Mit einem nachlässig wirkenden Fingerschnipsen Amandrias schlug das Wasser hohe Wellen und über Raphaios‘ Kopf zusammen. Leoth konnte sie leise kichern hören, als Raphaios in einen Eisblock eingeschlossen wurde.

Amandria lachte, strich sich das blau schimmernde Haar aus dem Gesicht und sah sich offensichtlich beifallheischend um. Leoth ließ sie noch einen Augenblick gewähren, in dem sie an den Eisblock trat und grinsend winkte. Raphaios‘ Gesicht war vor Konzentration verzerrt, in seinen Augen loderte Feuer. Immer noch lachend wandte sich Amandria ab.

Leoth beschloss zu handeln. Sie hatte ihren Triumph genug genossen.

Ihr Lachen erstarb urplötzlich und sie schrie stattdessen vor Schmerzen gellend auf. Blitze zuckten über ihre Haut und zwangen sie in die Knie.

»Amandria, Ihr scheint vergessen zu haben, wo wir uns befinden. Ihr seid nach wie vor in meinem Unterricht! Es ist zwar überaus gütig von Euch, uns zu demonstrieren, wie man am Besten Feuer mit Wasser bekämpft, dennoch solltet Ihr niemals vergessen, dass nicht alle hier Eure Macht und Euer Talent besitzen. Euer kleines Spielchen war leichtsinnig und dumm! Ihr habt jeden hier in Gefahr gebracht! Leoth stand nun genau vor seiner Schülerin, die sich vor Schmerzen wand. Ihr glühender Blick war auf das schlichte Holz in seinen Händen gerichtet. Leoth wurde bewusst, dass er nur mit diesem Artefakt, das so unscheinbar aussah, in der Lage war, die Wächter aufzuhalten, wenn sie über die Stränge schlugen. Der Stab der Elemente, der seinem Träger die Kontrolle über Wasser, Feuer, Erde und Luft gewährte, war seit jeher im Besitz der Lehrmeister, um den Lehrlingen aller vier Reiche Grenzen zu setzen. Doch nicht jeder hatte es mit so starken wie unbändigen Wächtern zu tun gehabt. Jede Generation der herrschenden Familien der Reiche war stärker, mächtiger als die vorherige. Leoth war sich zudem sicher, dass die Macht des Stabes nicht mehr lange ausreichen würde, um ihn vor den Wächtern zu schützen. Amandria und Raphaios waren schon lange in der Lage, sich ihm zu widersetzen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. Selbst Anaria wäre dazu in der Lage, würde sie ihr Potential ausschöpfen.

Leoth musterte Amandria, die sich noch immer vor Schmerzen wand. Die Blitze, die noch immer über die Haut der jungen Wächterin zuckten, würden sie nicht mehr lange im Zaum halten. Er musste handeln, bevor er zum Spielball ihrer Launen werden würde. Mit strafender Miene ließ er die Blitze verschwinden. Missbilligend und mit einer deutlichen Warnung erklärte er:

»Amandria, Ihr scheint überzeugt zu sein, meine Übungen nicht mehr zu benötigen. Daher werdet Ihr Euch nun zur Bibliothek begeben und in den Chroniken Eures Stammes die Kämpfe Eurer Vorfahren herauszuarbeiten und Euch die Techniken einzuprägen. In der nächsten Lehrstunde werde ich Euch in einem Kampf darauf prüfen.«

»Wollt Ihr, dass ich zuvor Raphaios aus seinem eisigen Gefängnis befreie?« Leoth konnte den abschätzigen Ton in ihrer Stimme hören, obwohl sie sich sichtlich Mühe gab, unterwürfig zu erscheinen.

»Nun, wenn er glaubt, bereit für einen Kampf gegen einen Wassermagier zu sein, so soll er auch die Konsequenzen tragen und sich selbst befreien.« Mit diesen Worten wandte sich Leoth wieder seinem Sorgenkind Anaria zu. Er spürte den intensiven, beinahe durchdringenden Blick Amandrias im Rücken, während er hörte, wie sie in einer Wasserfontäne verschwand.

Das neidvolle Seufzen Anarias lenkte seine Gedanken wieder auf die junge Erdmagierin, bevor er sich den Kopf über Amandria und Raphaios zerbrechen konnte. Der strenge Blick, den er der jungen Frau schenkte, verfehlte seine Wirkung nicht.

 

***

 

»Dämlicher, überflüssiger, langweiliger Unterricht!« Fluchend betrat Amandria die Bibliothek. Sie hatte aus ihren Fehlern gelernt, seit sie das letzte Mal das Donnerwetter ihres Lebens über sich ergehen lassen musste. Zugegeben, es war nicht die klügste Entscheidung gewesen, sich in einer Wasserfontäne in der Bibliothek zu manifestieren. Dennoch hätte der stundenlange Vortrag der »Herrin des Wissens und der Bücher«, wie sie die Bibliothekarin und gleichzeitig die beste Freundin ihrer Mutter nannte, nicht sein müssen. Die meisten Bücher hatten nichts abbekommen und nur einige wenige waren mit Tropfen bespritzt gewesen. Doch Nería behielt sie seitdem genaustens im Auge und verlangte, dass sie die Bibliothek nur noch zu Fuß betrat.

»Bla, bla, bla. Wasser. Bla, bla, bla. Heilige Hallen. Bla, bla, bla. Bücher. Bla, bla, bla. Ich werde diesen Vorfall deiner Mutter melden!«, murmelte Amandria vor sich hin. Aus den Augenwinkeln konnte sie Nería wissen lächeln sehen, während Amandria sie mehr schlecht als recht nachäffte.

»Nun, was hast di dieses Mal wieder angestellt?« In Nerías Stimme schwang unverhohlener Spott mit.

»Es freut mich auch, dich zu sehen, Nería.« Amandria bemühte sich gar nicht erst, ihren Unmut zu verstecken. Sie ignorierte den Blick der Bibliothekarin, in dem nicht gestellte Fragen und die Forderung nach den Antworten standen und wanderte durch die Abteilung des Wasserstammes. Wie soll ich das schaffen? Es würde Tage dauern, jeden Kampf eines jeden, jemals lebenden Wassermagiers heraus zu suchen und die angewandten Techniken herauszuarbeiten. Frustriert und etwas demotiviert griff sie nach dem ersten Buch. Kaum hatten ihre Finger sich um den Einband geschlossen, entfuhr ihr ein Schrei und sie ließ es schmerzerfüllt fallen. Erschrocken, aber auch misstrauisch musterte Amandria die geröteten Stellen ihrer Handfläche. Ihr Blick wanderte hinüber zum Buch zu ihren Füßen. Die metallenen Lettern des Einbandes glühten noch schwach. Zögernd streckte sie die Hand danach aus, als ein schadenfrohes Kichern erklang. Amandria drehte sich zornig um. Raphaios lehnte lässig an einem Regal und lachte.

»Raphaios! Wenn das Buch Schäden davon getragen hat, werde ich dir deinen vorlauten Hintern versohlen, so dass du mindestens ein Jahr nicht mehr darauf sitzen kannst! Wenn das Buch auch nur einen Brandfleck hat, hänge ich dich an deinen Ohren auf!«Nería war unbemerkt in den Gang getreten und schenkte den beiden strafende Blicke. Schlagartig sank die Temperatur um einige Grade. Amandria verzog das Gesicht, hob das Buch wieder auf und ließ die Temperatur wieder steigen.

»Ich glaube nicht, dass Temperaturschwankungen gut für die Bücher sind.« Raphaios kicherte. Nería murmelte etwas vor sich hin und verschwand wieder. Amandria wartete, bis die Bibliothekarin wieder an ihrem Pul saß, bevor sie Raphaios wütend anfunkelte.

»Du bist ja so unglaublich witzig! Ist dir eigentlich bewusst, dass sie just in diesem Moment meiner Mutter alles erzählen wird? Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, was das für mich bedeutet? In welchen Schlamassel du mich gebracht hast?«

»Das war die Rache für den Eisblock!« Das freche Grinsen auf Raphaios‘ Gesicht entfachte ihren Zorn. Unbewusst ließ sie die Temperatur erneut sinken.

»Was habt ihr verdammten Wassermagier nur mit euren Temperaturschwankungen? Könnt ihr das nicht einfach mal sein lassen?« Er schien zu frösteln. Sie ignorierte den Anflug von schlechtem Gewissen, als sie die Gänsehaut auf seinen Armen sah. Auch das Bedürfnis, ihn mit ihrer Umarmung zu wärmen, schob sie beiseite.

»Du bist ein Feuermagier! Es ist praktisch unmöglich, dass du frierst!« Amandria schüttelte den Kopf und unterdrückte die aufkommenden Gefühle für ihn. Vor allem als sie sah, wie er beschämt den Kopf senkte und eine Entschuldigung murmelte.

Amandria stapfte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, was sie mehr Willenskraft kostete, als erwartet, und setzte sich an einen großen Tisch. Sie achtete dabei sorgsam darauf, dass ihre Finger die metallenen Lettern nicht berührten.

»Es gibt eine einfachere Methode, als jedes Buch zu lesen.« Raphaios war ihr gefolgt. »Einfacher und effektiver.«

Das spitzbübische Grinsen auf seinem Gesicht verhieß nichts Gutes. Amandria bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick und schlug das Buch auf.

»Nun sei doch nicht so! Ich weiß doch, dass dir diese Aufgabe nicht zusagt und du sie schnell erledigen möchtest. Warum hörst du mich nicht wenigstens an? Du kannst meinen Vorschlag immer noch ablehnen!«

»Wieso habe ich das Gefühl, dass deine Idee wieder mit jeder Menge Ärger verbunden ist? Immerhin hat bis jetzt alles, was wir auf dein Geheiß ausprobiert haben, in einer Katastrophe geendet.«

»Alles haben wir noch nicht ausprobiert.« Sein anzügliches Grinsen ließ Amandrias Herz schneller schlagen. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken in eine Richtung, die sie sich selbst verboten hatte. Um sich nicht zu verraten, schlug sie mit dem Buch nach ihm und erwiderte mit betont kühler Stimme: »Also schön. Wie sieht dein Plan aus?«

»Wir benutzen unsere Elemente.«

»Wie bitte?«

»Wir benutzen unsere Elemente.«

»Das habe ich schon verstanden. Ich verstehe nur nicht, was du damit meinst.«

»Es mag vielleicht jetzt klingen, als wäre ich nicht bei Verstand, aber manchmal scheint das Feuer mit mir zu sprechen. Mich zu warnen. Mir zu helfen. Es hilft mir, meine Fähigkeiten auszubauen und da dachte ich, wir könnten unsere Elemente benutzen, um uns das Wissen anzueignen. Weißt du, ich meine das so«, sprach er hastig und wirkte auf einmal aufgeregt. Und ein bisschen nervös. »Also, weißt du, das Feuer gibt das Geschriebene an mich weiter und ich dann an dich.«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Er wirkte verlegen und tief in ihrem Herzen berührte es sie. Er wollte ihr helfen. Er wollte ihr wirklich helfen. Wie schon früher stand er zur Seite, wann immer sie ihn brauchte. Sie biss sich auf die Lippe. Um ihre Haltung zu bewahren, konzentrierte sie sich wieder auf das Wesentliche.

»Musst du dafür die Bücher nicht in Brand stecken?«

»Ich glaube schon.« Raphaios errötete. Amandria konnte nicht anders. Sie fand sein Erröten schlichtweg süß.

»Und du neubst, Nería bemerkt es nicht, wenn die Bücher plötzlich Feuer fangen?« Sie sah wie Raphaios betreten den Kopf senkte.

»Siehst du!«Amandria wandte sich wieder dem Buch zu.

»Aber mit deinem Element sollte es funktionieren!«

»Natürlich! Wasser schadet Büchern auch absolut nicht.«

Sie bemerkte, wie er entmutigt auf einen Sessel neben ihr sank. Ihre Knie berührten sich und Amandria biss sich erneut auf die Lippe. Ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sie neigte sacht den Kopf und musterte ihn. Seine goldenen Augen, das dunkle Haar und die gebräunte Haut verliehen ihm zusammen mit den kleinen Flammen an seinen Handgelenken den Eindruck einer glühenden Fackel.Amandria verkniff sich einen Seufzer. Ja, sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Seit sie einander das erste Mal gesehen hatten, bestand ein Band zwischen ihnen. Und all die Jahre hatte es sich gefestigt und vertieft. Ihre Mutter hieß es willkommen. Sah es als gutes Zeichen, wenn sie später Seite an Seite kämpfen würden. Allerdings warnte ihre Mutter sie auch immer wieder davor, ihren Gefühlen für Raphaios nachzugeben. Es könnte im Kampf beide das Leben kosten. Amandria schüttelte den Kopf, um sich wieder zu fassen. Nachdenklich starrte sie auf die eng beschriebenen Seiten. Es musste einen einfacheren Weg geben, als all das zu lesen. Und das ohne die Bücher zu zerstören.

Plötzlich kam ihr eine Idee. Befreit lachte sie auf und klatsche in die Hände. Als sie Raphaios‘ verständnislosen Blick auffing, zwinkerte sie ihm zu. Beide Hände über den aufgeschlagenen Seiten haltend schloß sie die Augen und konzentrierte sich. Sie bemühte sich, sich vorzustellen, dass die Tinte flüssig war, dass immer noch irgendwie Reste der Flüssigkeit vorhanden war.

Du darfst nicht nach der Flüssigkeit suchen. Stelle dir vor, dass die Tinte nach wie vor fließt.Unaufhörlich und im Gleichgewicht. Nun lass sie auf dich wirken. Werde Teil von ihr. Lass dich von ihrem Fluß tragen und sie wird dir ihr Geheimnis verraten.

Auch wenn sie es mittlerweile gewohnt war, von ihrem Element Ratschläge erteilt zu bekommen, erschreckte sie es immer wieder aufs Neue.

»Was tust du da?« Raphaios‘ Stimme klang erschüttert.

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Die Wörter, die Tinte floss über ihre Haut. Stimmen flüsterten in ihrem Kopf. Ein triumphierendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie es bemerkte. Sie hob den Blick und sah sich selbst in Raphaios‘ Augen: Ihre Augen leuchteten in einem intensiven Blau und feine Tätowierungen zogen sich über ihre Wangenknochen.

Die Seiten blätterten sich von selbst, während Amandria sich vom Strom des Wissens mitreißen ließ.